Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
protzig eingerichteten Wohnzimmers und stellen sich zu einer Gruppe von Damen, die sich über die letzte Folge aus der Serie »Desperate Housewives« unterhalten. Ja, das ist ein Thema, bei dem Sie mitreden können, denn Sie haben fast alle Folgen gesehen und wissen, dass Lynette eine Supermutter, Bree ein Kontrollfreak, Susan eine Versagerin, Gabrielle eine Schlampe und Edie eine Nymphomanin ist. Da kennen Sie sich aus, da kann Ihnen keiner eine Vier für eine Fünf vormachen. Aber die Sache mit den Lehrern geht Ihnen nicht aus dem Kopf.
Daheim angekommen, gehen Sie online, surfen ein wenig und stolpern über eine Geschichte, die ganz anders dimensioniert ist, aber grundsätzlich dieselbe Frage behandelt: Wie viel ist zwei mal zwei? Oder: »Wie die Europäische Zentralbank die Deutschen arm gerechnet hat.« Laut einer EZB -Studie liegen die Deutschen, was das mittlere Vermögen der Haushalte angeht, an letzter Stelle der 17 Euro-Länder. Wir haben das Thema schon in Kapitel 10 kurz behandelt; Sie erinnern sich? Platz eins halten die Luxemburger, gefolgt von Zypern und Spanien.
Glaubt man dieser EZB -Statistik, ist Deutschland das ärmste Land der Euro-Zone und die Slowakei das zweitärmste. Das kann doch nicht sein, sagt Ihnen eine innere Stimme, andererseits sind Sie sich sicher, dass bei der EZB keine Eckensteher und Flaneure arbeiten, sondern Ökonomen: Betriebswirte, Finanzwirte, Volkswirte, die nicht auf der Buena-Vista-Social-Club Universität in Havanna, sondern in Harvard, St. Gallen und an der London School of Economics studiert haben. Wenn die also sagen, Deutschland sei das ärmste Land der Euro-Zone, dann muss etwas dran sein.
Von wegen. Die Geschichte, die Sie online gefunden haben, wurde nicht von einem Superhirn der EZB geschrieben, sondern von einem Wirtschaftsjournalisten, der für die »Welt« arbeitet. Er erklärt Ihnen auf eine einfache und verständliche Art den Unterschied zwischen dem Bruttoinlandsprodukt ( BIP ) und dem Bruttosozialprodukt ( BSP ). Klingt ähnlich, ist aber etwas anderes. So wie Hubraum und PS bei einem Auto. Ein großer Hubraum bedeutet nicht automatisch viele Pferdestärken und umgekehrt.
Zypern wurde von der EZB reich gerechnet, indem bei der Berechnung des mittleren Vermögens der Haushalte auch die Vermögen der auf Zypern residierenden Briten und Russen berücksichtigt wurden. Deutschland wurde arm gerechnet, indem das beträchtliche deutsche Anlagen- und Immobilienvermögen im Ausland außer Acht gelassen wurde. So kommt es, Sie erinnern sich, dass zum Beispiel »die Ferienhäuser vermögender Deutscher auf Mallorca dem spanischen, nicht jedoch dem deutschen Vermögen zugerechnet« wurden. Beziehungsweise umgekehrt: »Je besser es den Deutschen geht und je mehr Immobilien sie sich deswegen im Ausland leisten können, umso tiefer sinken sie in der Rangliste der EZB .« Jeder Euro, den die Deutschen nach Luxemburg oder Zypern überweisen, verringert nominell das deutsche Vermögen und bläht das der Luxemburger und Zyprer auf. Mit »arm« oder »reich« im eigentlichen Sinne des Wortes hat das nichts zu tun.
Dass die Bundesrepublik kein armes Land ist, sagt Ihnen schon ein Blick aus dem Fenster. Die Infrastruktur ist immer noch mehr als ordentlich, die Müllabfuhr kommt pünktlich, die Restaurants sind gut besucht, in den so genannten »sozialen Brennpunkten« stehen Sozialpädagogen alleinerziehenden Müttern bei, die sich nicht mehr erinnern können, wo die Väter ihrer Kinder abgeblieben sind; und wenn Sie jemanden sehen, der in Mülltonnen nach etwas Essbarem sucht, dann kann es nur ein »Tatort« von Radio Bremen oder eine »Kulturzeit«-Reportage aus Indien sein. Aber wer traut sich schon, dem eigenen Augenschein mehr zu glauben als den Fachleuten der Europäischen Zentralbank, die uns allen Ernstes klarmachen wollen, Deutschland sei im Vergleich zu Zypern ein armes Land. Wenn Sie das glauben, dann glauben Sie auch, dass zwei mal zwei nicht unbedingt vier ergeben muss.
Kann man es solchen Experten abnehmen, dass sie in der Lage sind, den Kurs des Euro zu beeinflussen oder gar zu steuern? Oder sonst etwas, das »die Märkte« durcheinanderwirbelt? War nur eine rhetorische Frage. Kann man natürlich nicht. Die Experten selber wissen es auch nicht, aber von diesem Nichtwissen sollen Sie nichts erfahren. Deswegen werden Sie jeden Tag mit neuen Analysen, Expertisen – gerne auch widersprüchlichen –, Nachhersagen, Binsenweisheiten etc. überschüttet, die alle
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