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Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)

Titel: Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henryk M. Broder
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nur einem Ziel dienen: Sie zu beruhigen oder besser gesagt: ruhigzustellen, so wie ein hyperaktives Kind mit Ritalin ruhiggestellt wird.
    Der Goldpreis stürzt innerhalb weniger Stunden dramatisch ab? War einfach überfällig. Der Dax bricht ein und 17 Milliarden Euro Börsenwerte lösen sich in Luft auf? Es muss an einem Gerücht über eine bevorstehende Abstufung der deutschen Bonität durch eine Ratingagentur gelegen haben. Der Dax durchbricht wieder die 8000er-Marke. War doch klar, das Vertrauen in Europa ist zurück. Die Bundesregierung rechnet mit Überschüssen im Haushalt ab 2016? Gerade darin liegt eine Gefahr. Die europäischen Volkswirtschaften wachsen bereits 2013, nein erst 2014 wieder, dann aber kräftiger als bisher angenommen. Nach der dritten Meldung dieser Art an einem Tag geben Sie auf und widmen sich lieber der Frage, ob Sie von Butter auf Margarine umsteigen sollen oder umgekehrt. Auch darüber gehen die Meinungen auseinander.
    Die Älteren unter Ihnen, also die über 50-Jährigen, werden sich vielleicht noch an die Zeit erinnern, als die DDR zu den wichtigsten »Industrienationen« der Welt gezählt wurde. Es gab sogar Ökonomen, die behaupteten, die DDR würde in der Rangliste der Industrienationen den siebten Platz belegen. Mit einer Mischung aus Betrug und Selbstbetrug, Rhetorik und Repression nährte die Führung der DDR solche Illusionen und produzierte ständig neue. Zum Beispiel das Märchen von der DDR als dem beliebtesten Reiseland in Europa. Tatsächlich kamen im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Besucher in die DDR als in jedes andere europäische Land – Liechtenstein, den Vatikan und San Marino ausgenommen. Das gelang aber nur, wenn man die Transitreisenden zählte, die über die »Interzonenverbindungen« aus der Bundesrepublik in die »selbständige politische Einheit Westberlin« fuhren und umgekehrt. Die Zahl der bei Ein- und Ausreise an den Kontrollpunkten gestempelten Visa war in der Tat gigantisch.
    Nicht jede Statistik erfüllt den Tatbestand des Betrugs. Aber jeder Betrug basiert auf einer Statistik. Vollkommen marode Systeme wie die Sowjetunion schleppten sich von einer Krise zur nächsten, während sie immer neue Rekordernten und übererfüllte Produktionspläne bekannt gaben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis solche Systeme kollabieren, aber der Zeitpunkt lässt sich eben nicht vorhersagen.
    Es gibt freilich zwei Indikatoren für den Moment, ab dem es gefährlich wird: Wenn die Verantwortlichen anfangen, ihre eigene Propaganda für bare Münze zu nehmen, und wenn die Suche nach Sündenböcken losgeht, noch bevor der Ernstfall eingetreten ist. Diesen Moment haben wir erreicht.
    Ende 2012, kurz vor Weihnachten, gab Wolfgang Schäuble der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« ein Interview, in dem er sich für die Direktwahl eines Präsidenten für Europa aussprach. »… so wie in Frankreich und Amerika. Wenn wir Europäer einen von uns direkt zum Präsidenten machen könnten, in einer demokratischen Wahl, das wäre doch was, meine ich!«
    Ja, das wäre was! Vor allem wenn es »einen von uns« ganz nach oben katapultieren würde. Einen von uns 500 Millionen Europäern? Oder einen von uns aus der Brüsseler Nomenklatura?
    Sehen wir Schäuble den kleinen Fehler nach, dass der US-Präsident mitnichten direkt gewählt wird. Auf solche Petitessen kommt es nicht an, wenn man es sich zum Ziel gesetzt hat, eine »europäische Öffentlichkeit« herzustellen, eine Absichtserklärung, die immerhin das Eingeständnis enthält, dass es bis jetzt keine »europäische Öffentlichkeit« gegeben hat. Davon abgesehen stelle ich mir die Direktwahl eines europäischen Präsidenten ziemlich lustig vor. Natürlich müssten sich die Europäer zuerst über die Modalitäten einigen. So wie in Frankreich, mit mehreren Kandidaten, einer ersten Wahl und einer Stichwahl? Oder so wie in Amerika, mit praktisch zwei Kandidaten und Wahlmännern und nach dem Prinzip »The winner takes all«? Sollte jeder Europäer eine Stimme haben – one man, one vote –, oder müsste man den kleineren Ländern proportional mehr Stimmen einräumen, damit sie nicht automatisch von den größeren niedergestimmt werden können? Allein die Klärung dieser Fragen würde länger dauern als die Entwicklung und Produktion einer Euro-Soap für den von Bundespräsident Gauck vorgeschlagenen Euro- TV -Sender.
    Und dann der Wahlkampf! Es wäre so aufregend, einen finnischen Kandidaten bei einem Auftritt in Kalabrien zu

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