Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Alleingängen ab.
Was mich angeht, so halte ich »nationale Souveränität« für kein Gut, das ich unter Einsatz meines Lebens verteidigen würde. Es ist mir egal, ob ich von einem deutschen oder einem französischen oder europäischen Polizisten angehalten werde, oder ob ich von einem deutschen, einem holländischen oder einem europäischen Finanzamt ausgeraubt werde. Was ich vom Staat erwarte, ist nicht allzu viel: eine verlässliche Müllabfuhr, ein intaktes und unabhängiges Justizwesen, ein Erziehungssystem, das jedem eine faire Chance gibt, ohne das Leistungsprinzip aufzuheben, Kontrolle über das Gewaltmonopol und irgendeine Stelle, die sich um den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur kümmert: Straßenbau, Verkehrswesen, Luftraumüberwachung, Internet. Das wäre im Prinzip alles.
Wenn mir also die »nationale Souveränität« nicht allzu viel bedeutet, dann ist es mir auch kein Anliegen, Teile dieser nationalen Souveränität auszulagern. Das ist kein Fortschritt, es ist nur eine Kompetenzumverteilung. Irgendjemand muss am Ende den Job erledigen, für den ich meine Gebühren bezahle. Wer es ist, ist mir egal, so wie es mir egal ist, ob der Wirt vom »Fährhaus« in Caputh bei Potsdam Deutscher, Pole oder Afghane ist, solange keine Kakerlaken durch die Küche laufen. Im Übrigen stimmt es nicht, dass die Einbindung in eine übernationale Institution nationalstaatlichen Abenteuern vorbeugen könnte. Das gilt allenfalls für zwischenstaatliche Konflikte, wobei ein Wiederaufflammen der deutsch-französischen Erzfeindschaft extrem unwahrscheinlich ist. Was die »inneren Verhältnisse« angeht, hat sich wenig geändert. Die EU ist zwar in der Lage, den Tschechen vorzuschreiben, welche Art von Brotaufstrich sie als »Maslo« bezeichnen dürfen, sie ist aber nicht in der Lage, faschistischen und antisemitischen Parteien die Teilnahme an den Wahlen in Ungarn zu verbieten. Alles, was sie kann, ist, die Lage in Ungarn »mit Sorge« zu beobachten.
Deswegen ist das Gerede, ein starkes Europa sei das beste Gegengift gegen die »Renationalisierung«, wie es Guido Westerwelle sagt, eben nur Gerede. Das Gegenteil ist der Fall. Wie wir gesehen haben, ist das Bekenntnis zu Europa eine wohlfeile Möglichkeit, sich als Meta-Nationalist zu gebärden, ohne in den Verdacht zu geraten, einer zu sein.
Der von mir als Prototyp des linken Salonkommunisten mit Millionärshintergrund so geschätzte Jakob Augstein hat vor kurzem in einem Interview Folgendes gesagt:
»Der Euro ist meiner Meinung nach das Wichtigste, was wir alle im politischen Raum jemals erlebt haben, bisher, ich glaube, dass das die größte und wichtigste Errungenschaft, das bedeutendste Ereignis ist, das wir alle erlebt haben, ich halte es auch für wichtiger, auch für uns, als die deutsche Einheit, ist der Euro, weil sozusagen die Einigung, die sich da vollzieht, viel, viel größer ist als nur die deutsche Einheit, das ist eben die Einheit Europas …«
Interviewer: »… durch die Währung?«
»Ja, durch die Währung, na klar, es gibt da diese zwei Schulen, die einen sagen, es fängt mit der Währung an, und der Rest kommt dann später, die anderen sagen, die Währung kann erst kommen, wenn der Rest schon da ist, Krönungs- und Grundsteintheorie, ich glaube, diese Idee fängt mit der Währung an und daraus entwickelt sich die politische Einheit, das war immer die französische Idee, die Franzosen haben es so gesagt, ich glaube, dass es richtig ist, das stimmt, man muss es nur richtig machen, man muss es nur wollen.«
Das Interview wurde in einem Berliner Lokal aufgenommen, in dem ein »Menu du jour« (Tagesgericht) 44,50 Euro kostet. Augstein ist viel zu progressiv und viel zu links, um einem deutschen Nationalismus das Wort zu reden. Aber die einerseits erhabenen, andererseits höchst verpönten Gefühle brauchen einen aseptischen Raum, in dem sie sich entfalten können. So wie Vegetarier von Fleisch, Abstinenzler von Alkohol und Zölibatäre von Sex träumen, so träumen Deutsche auf Entzug von der »Einheit Europas« – als Ersatz für den Traum von der nationalen Größe. Dass in einem vereinten Europa die Deutschen weitgehend den Ton angeben, macht den Traum nur umso schöner. Einerseits soll Europa nationalistische Höhenflüge verhindern, andererseits ist es der Heißluftballon, der Euro-Nationalisten zum Abheben einlädt.
Mit diesem Widerspruch lässt sich vieles erklären, was in Brüssel passiert. Die Grundlage des Fundaments ist eine
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