Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
wohl noch das sozial Verträglichste.
Ich finde es richtig, dass die Starken und die Reichen den Schwachen und den Armen helfen. Das ist der Kern aller Religionen – des Judentums, des Christentums, des Islam und des Marxismus-Leninismus. Ich wundere mich nur, wie viele Menschen, die weder an die Erbsünde noch an ein Leben nach dem Tode glauben, die weder vor noch nach dem Essen beten, die Weihnachten für ein Fest des Einzelhandels und den Auszug aus Ägypten für eine Geschichte aus Hollywood halten, sich dennoch ein Paradies auf Erden wünschen, einen säkularen Garten Eden, in dem alle Lebewesen einander lieb haben und sich umeinander kümmern. Wie schon vom Propheten Jesaja im achten vorchristlichen Jahrhundert vorhergesagt: »Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind …«
Es ist wie in dem Witz vom Tel Aviver Zoo, wo man einen Löwen und ein Lamm in einem Käfig untergebracht hat. Der Löwe lag in der einen Ecke, das Lamm in der anderen. Sie dösten friedlich vor sich hin, und wenn die Zeit der Fütterung kam, wachten sie auf und begrüßten den Tierpfleger, indem sich beide auf den Rücken legten und alle viere von sich streckten.
Die Geschichte sprach sich rum, Zeitungen schrieben über das »Wunder von Tel Aviv«. Eines Tages kam eine Gruppe amerikanischer Zoo-Direktoren nach Tel Aviv. Sie standen vor dem Käfig mit dem Löwen und dem Lamm und konnten es nicht fassen. Wie ist so etwas möglich, fragten sie sich, ist es ein Wunder oder eine optische Täuschung? Der Direktor des Tel Aviver Zoos, Jeschajahu Goldberg, stand daneben und freute sich über die Reaktionen seiner Kollegen. Bis schließlich der Direktor des New Yorker Zoos das Wort ergriff. »Ich habe schon vieles gesehen, aber so etwas …, nun sagen Sie schon, Herr Kollege, wie haben Sie das geschafft?«
»Ganz einfach, wir geben dem Löwen jeden Morgen ein neues Lamm.«
15. Das Karussell Europa muss sich weiter drehen – oder …?
Der Titel dieses Buches ist geklaut, oder sagen wir: geliehen. Wenn man etwas klaut, dann ist nur das Beste gut genug. Also nicht Hennes & Mauritz, sondern Marks & Spencer. In diesem Fall ist es Karl Kraus. Er gab einem Theaterstück über den Ersten Weltkrieg den Titel »Die letzten Tage der Menschheit«. Die »Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog« war eine Sammlung von etwa 200 Szenen, die nur lose zusammenhingen. Heute würde man von einer O-Ton-Collage sprechen, bestehend aus Zeitungsmeldungen, Reden von Politikern, Lageberichten des Militärs, Gerichtsurteilen, eigenen Kommentaren und allerlei Trivia aus den Jahren 1915 bis 1922. Kraus schrieb im Vorwort:
»Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.«
Das hört sich an, als hätte schon Karl Kraus darunter gelitten, dass er mit der Realität nicht mithalten konnte, dass keine seiner »Erfindungen« so schrecklich war wie die Fundstücke, über die er stolperte. Genau so ging es mir bei vielen der Geschichten, die diesem Buch zugrunde liegen. Die schlimmsten Zitate sind Originaltöne.
Über den Untertitel meines Buches hat es zwischen mir und dem Verlag eine längere Diskussion gegeben. Am Ende haben wir uns auf den Satz geeinigt »Wie wir eine gute Idee versenken«. Ich will niemandem eine böse Absicht unterstellen, sogar bei einem Tötungsdelikt wird zwischen »vorsätzlich« und »fahrlässig« unterschieden. Auch das Christentum und der Kommunismus waren ursprünglich gute Ideen. Aber im Laufe des Schreibens wurden meine Zweifel immer stärker, ob »Europa« – im Sinne der »Vereinigten Staaten von Europa« – überhaupt jemals eine gute Idee war oder von Anfang an nur die Projektion eines 8-mm-Films auf eine riesige Leinwand, also verwackelt, unscharf und voller brüchiger Klebestellen. Der Versuch, mit einem Trampolin einen Astronauten auf den Mond zu schießen.
Natürlich bin ich für offene Grenzen, freien Handel und Wandel, den Austausch von Gütern und Ideen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie lästig es war, auf der kurzen Strecke von Köln nach Paris zweimal kontrolliert zu werden. Aber die Umstände, in denen ich lebe, und
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