Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
die Möglichkeiten, die ich habe, diesen Umständen zu entkommen, sind derart, dass ich mir über den Preis für meine Freiheit, ungestört reisen zu können, keine Gedanken machen muss. Im Gegensatz zu denjenigen, die nur einmal oder zweimal im Jahr verreisen und dann auch in der Ferne das Vertraute suchen, also Jägerschnitzel mit Rahm-Pilz-Sauce und Spätzle.
Ich sage das ohne jeden Hochmut, weil mir inzwischen klar geworden ist, dass »Europa« ein »Eliten-Projekt« der Vielflieger und Meilensammler, der Feinschmecker und Perlentaucher ist, so wie die »Internationale« die Hymne der Politruks war, die ihren Völkern die Ausreise verweigerten. Ich habe mir auch keine Gedanken gemacht, ob es möglich ist, und falls ja, was es kostet, grenzüberschreitend gleiche Lebensverhältnisse herzustellen, ob man Gesellschaften synchronisieren kann, in denen die einen zu Fuß, die anderen mit einem Esel, die dritten mit einem Porsche Cayenne unterwegs sind.
Diese Fragen spielten in meinem Leben keine Rolle, und deswegen habe ich sie mir nie gestellt. Europa war für mich eine Art Supermarkt: Käse aus Holland, Schokolade aus der Schweiz, Schinken aus Italien, Gänseschmalz aus Polen, Regale aus Schweden, Pornos aus Dänemark, Sardinen aus Portugal, Madeleines aus Frankreich und Literatur aus Österreich.
Und ich gehe jede Wette ein, dass ich nicht der Einzige bin, der nicht mitbekommen hat, was für eine Krake im Hinterhof unserer Bausparidylle zum Leben erwacht ist, wie sie immer größer und größer wurde, wie eine jener versehentlich aus einem Versuchslabor entlaufenen atomar kontaminierten Superameisen. Allerdings, wann immer ich Günter Verheugen in der Tagesschau sah, fragte ich mich, was macht der eigentlich in Brüssel? Wofür ist er zuständig? EU -Erweiterung? Meinetwegen.
Ich könnte jetzt auch in lautes Wehklagen darüber ausbrechen, dass diese Brüsseler Monster im Begriff sind, »mein« Europa kaputtzumachen. Das wäre die logische Fortsetzung des Arguments, dass die Idee an sich gut war und dass sie irgendwann aus dem Ruder gelaufen ist. Aber das wäre geheuchelt. »Mein« Europa ist immer noch da: der Rynek in Krakau, die Bloemgracht in Amsterdam, der Naschmarkt in Wien. Und ich muss zugeben, dort sieht es heute besser aus als vor zehn Jahren. Wahrscheinlich auch deswegen, weil vieles mit EU -Geldern saniert wurde, das sonst dem Verfall anheimgefallen wäre.
Was ist es also, das mich abstößt und irritiert? Europa ist ein großes Labor, und wir sind alle Versuchskaninchen. Objekte eines groß angelegten Experiments. Das Experiment heißt: Erschaffung einer europäischen Identität. So etwas mag aufregend, ja faszinierend sein, wenn es in der Literatur stattfindet, wie die Geschichte, die im ersten Buch Mose erzählt wird. »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.«
In der Politik nennt man das »Gestalten«. Kein Politiker, von José Manuel Barroso bis Sigmar Gabriel, der das nicht möchte. Aber wenn die alle so wild darauf sind, zu »gestalten«, warum lernen sie dann nicht töpfern oder bauen ihren Fahrradkeller zu einer Bar aus?
Es ist natürlich nicht der erste Versuch dieser Art. Die Sowjetunion war eine riesige Versuchsanstalt, China während der Kulturrevolution, Kambodscha unter Pol Pot. Einige kleinere Outlets existieren noch: Kuba, Nordkorea, die Odenwaldschule in Heppenheim an der Bergstraße. Der Versuch, einen neuen Menschen zu schaffen, hat zahllose Menschenleben zerstört.
Ich weiß, dass ich übertreibe. Die EU ist keine Diktatur, sie unterhält keine Gulags und sie verbietet es niemandem, nach Australien auszuwandern. Aber sie rotiert um einen Orwellschen Kern. Eine Utopie soll realisiert werden, um jeden Preis. Sie auf halbem Wege abzubrechen oder wenigstens innezuhalten, um eine Zwischenbilanz zu ziehen, käme bereits dem Geständnis gleich, dass man gescheitert ist. Es ist mehr als nur eine Frage der Ehre, es ist Physik. Nehmen Sie einen kleinen Eimer, füllen Sie ihn randvoll mit Wasser und schleudern Sie ihn an einem kurzen Seil im Kreis um Ihren Kopf. Das Wasser bleibt im Eimer – solange Sie ihn schnell genug kreisen lassen. Deswegen muss sich auch das Karussell Europa weiterdrehen. Würde es stehenbleiben, käme die Schwerkraft, vulgo die Realität, zum Tragen. Das Wasser würde aus dem Eimer
Weitere Kostenlose Bücher