Die letzten Tage von Hongkong
Chan sah Riley an. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, John. Jedesmal, wenn ich die Leute von der forensischen Abteilung ein bißchen antreiben will, schauen die mich an, als könnte ich mir das bei meinem Dienstgrad nicht erlauben. Nun, Sie in Ihrer Position …«
Riley erhob sich, als habe er einen Befehl erhalten. »Aber sicher. Ich mache denen schon Feuer unterm Hintern.«
Als Riley aus dem Zimmer war, sagte Chan zu Delaney: »Es ist spät. Wie wär’s, wenn Sie uns die zahnmedizinischen Unterlagen überlassen, ins Hotel zurückgehen, um sich frischzumachen, und sich später auf einen Drink mit uns treffen? Sie waren lange unterwegs, und Dick und ich würde es freuen, wenn es Ihnen hier gefällt. Stimmt’s, Dick?«
Delaney schenkte ihm ein breites amerikanisches Grinsen. »Das ist nett von Ihnen, Charlie, wirklich sehr nett. Offen gestanden hatte ich schon überlegt, was ich machen würde, wenn ich mich mitten in der Nacht schlaflos im Bett wälzen müßte.«
VIERZIG
Wanchais Ruhm ging auf den Vietnamkrieg zurück. Hongkong war nur ein paar Flugstunden von Saigon entfernt und somit für die GIs ideal zum Erholen. Wanchai war der Ort, an dem nacktes Fleisch verkauft wurde. Jedenfalls, bevor Hongkong sich in ein Finanzzentrum verwandelte. Heute fand der Sex hauptsächlich auf den Neonwerbeflächen statt: Hot Cats Topless Bar, Purple Pussycat; Sailor’s Comfort; Popeye’s; the Mabini Bar; Wild Cats. Freier, die wirklich eins der Mädchen mit aufs Zimmer nehmen wollten, konnten das tun, allerdings zu einem Preis, bei dem eher eine Heirat sich gelohnt hätte. Den größten Profit machten die Lokale mit den Drinks: Hier kosteten sie fünfzig- bis hundertmal mehr als in normalen Bars. Dafür durfte man jungen Asiatinnen dabei zusehen, wie sie sich um Chromstangen schlängelten, die aus der Bühne hinter der Bar ragten.
Chan ließ Aston die Lockhart Road vorausgehen; er und Delaney folgten.
»Sie kennen sich hier aber gut aus«, rief Delaney Aston von hinten zu. Er hatte jetzt eine weiße Hose, Freizeitschuhe und ein gelbes kurzärmeliges Hemd an. Chan gefiel es, wie der New Yorker Polizist alles sofort registrierte. Ein richtiger Profi. Wahrscheinlich, so dachte Chan, barg Wanchai für Delaney keine Verlockungen, denn hier ging es hauptsächlich um eine Lichtershow. Ein Urwald aus flackernden Neonlampen wuchs aus den Wänden und streckte seine Fangarme nach dem vorbeiflanierenden Geld aus.
»In Wanchai können Sie alles kaufen«, sagte Aston über die Schulter gewandt, »rund um die Uhr. Eine Sauna, Nudeln, Steaks mit Pommes, Fernseher, einen Walkman, ein Ticket nach San Francisco – einfach alles.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Interessanter Ort hier.«
»New York ist doch ganz ähnlich, oder?«
Delaney sah sich ein wenig um. »Ach, in Hongkong geht es viel zivilisierter zu. Hier sehe ich nur eine Menge Leute, die sich eine schöne Zeit machen, ohne die Achtung vor dem Mitmenschen zu verlieren. Ich hab’ in den zehn Minuten, die wir jetzt unterwegs sind, noch keinen einzigen Mord beobachtet.«
Chan lachte. Er fühlte sich wohl in Delaneys Gesellschaft, weil er ihn jetzt besser verstand. Wie erwartet, hatten die zahnmedizinischen Unterlagen bestätigt, daß Jekyll und Hyde Yu und Mao waren. Chan hatte das Gefühl, daß der Fall sich seiner Lösung näherte. Das machte ihn fast schwindelig. Bei Mordfällen passierte das manchmal. Man löste das Rätsel, und plötzlich hatte man das Gefühl, die Toten wieder zum Leben erweckt zu haben.
»Wollen wir ins Popeye’s gehen?« fragte Aston.
»Warum nicht«, antwortete Delaney. »Ist Ihnen das recht, Charlie?«
Sie überquerten die Straße bis zu der kleinen Betonmauer in der Mitte. Aston schwang sich grinsend darüber, ohne sie mit den Füßen zu berühren. Chan hob zuerst ein Bein darüber und dann das andere. Es überraschte ihn, daß Delaney Probleme mit dem Hindernis hatte. Er hielt ihm den Arm hin, als der Amerikaner auf halbem Wege steckenblieb.
»Alles in Ordnung?«
Delaney nickte. »Bin wohl nicht mehr so jung wie früher.«
»Gilt das nur für Mauern?«
»Nein, für das ganze Leben.«
Er verzog das Gesicht, als er ein Bein über die Mauer hob, und sah aschfahl aus, als sie schließlich bei Popeye’s anlangten.
Er holte ein Pillendöschen aus der Tasche und nahm eine Tablette.
»Ich weiß nicht, was das ist – hat vor ein paar Monaten angefangen. Die Ernährung scheint keinen Einfluß darauf zu haben. Ich hab’ versucht, mit dem Trinken
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