Die letzten Tage von Hongkong
Bier.
»Ich habe Krebs, Charlie, Dickdarmkrebs. Moira weiß nichts davon, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihr nichts davon erzählen. Ich werde es ihr bald auf meine Art sagen. Sie hat übrigens bei ihrer Rückkehr nichts verraten, aber sie hatte diesen merkwürdigen Blick. Ich habe mich für sie gefreut, das meine ich ehrlich. Sie hat in den letzten Jahren ziemlich viel durchgemacht. Aber sie mußte mit mir reden – schließlich war Clare auch meine Tochter.«
»Gibt’s keine Heilung? Zum Beispiel eine Chemotherapie?«
Der Amerikaner zuckte mit den Achseln. »Klar, die können’s rauszögern, mir ein paar Stücke rausschnipseln und eine Chemotherapie machen, bis mir die Haare ausfallen und ich aussehe, als hätte ich AIDS. Es heißt, daß manche Leute die Krankheit durch Willenskraft bezwingen. Aber ich bin Italiener – ich spüre, daß Gott mir sagt, meine Zeit ist vorbei. Verstehen Sie, was ich meine?«
Die Hälfte der jungen Männer an der Bar begann sich seitlich an die wippenden Tänzerinnen heranzuschieben. Kichern und Lachen, als die ersten ankamen. Mädchen, die zuerst noch mit Mädchen getanzt hatten, bewegten sich nun im Takt mit den Jungen. Coletti sah ihnen zu.
»Ich will meine Jugend nicht zurück, Charlie. Ich würde nur wieder die gleichen Fehler machen. Mein Problem lag darin, daß ich zuviel von allem hatte: Ich bin verwöhnt worden. Und ich wollte immer noch mehr. Jetzt versuche ich nur, die Balance wiederherzustellen. Italiener sterben gern in Frieden – das ist wichtig für uns.«
Auch Chan sah den Tänzern zu. Er hatte vorhin gar nicht daran gedacht, aber hier hatte er Sandra kennengelernt. Noch vor nicht allzu langer Zeit, noch vor ein paar Jahren, war er genauso gewesen wie diese jungen Männer, die bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so jung waren. Sie hatte ihn von dem Augenblick an, in dem er die Bar betreten hatte, mit Blicken angezogen, obwohl er zuerst eine Stunde lang an der Theke getrunken hatte, bevor er zu ihr gegangen war. Sie nannte das Chemie.
»Ich stimme Ihnen zu, ich möchte meine Jugend auch nicht zurück. Ich würde nicht gerne noch einmal so dumm sein. Welche Balance möchten Sie wiederherstellen?«
Trotz allem, was Coletti gesagt hatte, flirtete er mit einer Blondine an der Bar, die Chan noch gar nicht aufgefallen war. Sie war fünfunddreißig bis vierzig. Coletti wandte den Blick verlegen lächelnd ab.
»Nachdem Moira mich verlassen hat, habe ich eine ziemlich wilde Zeit erlebt. Man entwickelt gewisse Fähigkeiten. Wahrscheinlich ist das Laster nichts anderes – eine Fähigkeit des Ego, die man nicht aufgeben möchte. Ich glaube nicht, daß mich nach der Chemotherapie noch eine anschaut.« Er nippte an seinem Bier.
»Clare – die Balance möchte ich wiederherstellen.«
»Also sind Sie nicht offiziell hier?«
»Nein. Sie könnten mich auffliegen lassen, weil ich mich als Frank Delaney ausgegeben habe. Er ist ein Freund von mir, wahrscheinlich würde er mich decken. Aber ich habe das Gefühl, daß Sie das nicht machen werden.«
»Warum mußten Sie sich überhaupt für jemanden ausgeben?«
»Damit’s einen offiziellen Anstrich hat. Vielleicht auch aus Verlegenheit. Weil Sie zu viel über mich wissen. Sie haben doch mit Moira geschlafen, oder? Also hat sie auch mit Ihnen geredet. Heutzutage redet Moira ziemlich viel.« Als Chan darauf nichts sagte, fuhr Coletti fort: »Verstehen Sie, was ich meine? In unserem Gewerbe gibt man ungern zu, daß wir auch nur Menschen sind. Ich bin hier, weil ich als Ehemann und Vater versagt und Krebs habe und mir nichts Besseres einfällt, als bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Nach all den Jahren möchte ich eigentlich nur ein guter Bulle sein. Verdammt.« Er sah Chan in die Augen. Wieder diese tiefbraunen Frauenaugen, die Chan sofort aufgefallen waren.
»Wenn wir von Anfang an wüßten, daß sich unsere Werte eines Tages verändern, daß wir irgendwann erwachsen werden, würden wir unser Leben bewußter gestalten.«
Chan sah, daß Coletti wieder zu der Blondine hinüberschaute. Sie hörte gerade einem jungen Mann mit schütterem, ingwerfarbenem Haar zu, der wild mit den Händen herumfuchtelte. Hin und wieder sah sie zu Coletti herüber, aber die Häufigkeit ihrer Blicke ließ nach. Coletti machte eine Handbewegung in ihre Richtung.
»Mein Gott, wie oft ich mich in solchen Momenten habe fangen lassen. Zwei Jahre und viele schmerzliche Erfahrungen später wacht man dann schließlich auf und fragt
Weitere Kostenlose Bücher