Die letzten Tage von Hongkong
diese Unterschiede wahrzunehmen, wenn der Sprecher auf der Kassette sie demonstrierte. Sie bezweifelte, daß sie sie genau wiedergab.
Nach ihrer Rückkehr aus Hongkong hatte sie sich für ihre kleine Wohnung ein Faxgerät zugelegt. Sie tippte die Antworten auf Chans Fragen mit der Schreibmaschine und las sie sich noch einmal durch, bevor sie sie ins Polizeirevier von Mongkok schickte.
STRENG PRIVAT UND GEHEIM
An Chief Inspector S. T. Chan Criminal Investigation Department (Mordkommission)
Polizeirevier Mongkok
Lieber Charlie,
habe Dein Fax erhalten. Die Antworten auf Deine Fragen lauten nach Deiner Numerierung folgendermaßen:
1. Ja, Mario ist nach seiner Rückkehr zu mir gekommen. Er ist ziemlich krank und mußte sogar ein paar Tage ins Krankenhaus.
2. Ich schicke Dir ein paar Bücher, die vieles von dem erklären, was ich Dir über die Ausbreitung des organisierten Verbrechens und die Abmachungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen erzählt habe. Du wirst sehen, daß die Russenmafia seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einige wichtige Geschäfte mit unseren Jungs abgeschlossen hat (eigentlich hat alles schon ein bißchen früher angefangen, nämlich unter Breschnew). Ich füge außerdem den Bericht eines Ausschusses der Vereinten Nationen bei, der alles kurz zusammenfaßt.
3. Ja, Uran und andere wertvolle radioaktive Metalle werden auf dem Schwarzmarkt der amerikanischen und sizilianischen Mafia gehandelt. Angereichertes Uran, wie es zum Bau einer Atombombe nötig ist, ist an unterschiedlichen Orten Europas aufgetaucht, unter anderem im Kofferraum eines Autos. Alle großen englischsprachigen Zeitungen haben darüber berichtet. Einige Gangster sind vor ein paar Jahren fast an einer Überdosis Strahlen gestorben, weil sie nicht wußten, was sie transportierten. Nicht angereichertes Uran taucht öfter auf.
4. Mario hat recht mit seiner Behauptung, Clare sei eine Phantastin gewesen. Schon als Kind hat sie in ihrer eigenen Welt gelebt, aber sie war auch sehr, sehr klug. Sie hat die meisten Menschen dazu gebracht, das zu tun, was sie wollte. Sie hatte was im Kopf (wahrscheinlich hat sie das von mir geerbt – ha, ha!).
5. Ich weiß nichts über die Beziehung der hiesigen Mafia zu den chinesischen Triaden, aber in den Büchern, die ich Dir schicke, wirst Du sehen, daß da was im Gange ist.
P. S. Ich lerne gerade Kantonesisch, warum, muß ich Dir wahrscheinlich nicht sagen. Ich würde Dich gern wiedersehen. Aber es ist in Ordnung, wenn Du nicht willst.
Moira Coletti
Chan las das Fax in seinem Büro noch einmal und wandte sich dann dem Bericht der Vereinten Nationen zu.
» Internationale kriminelle Organisationen haben Absprachen getroffen, bestimmte Regionen untereinander aufzuteilen, neue Absatzstrategien zu entwickeln, Formen der gegenseitigen Unterstützung auszuarbeiten und Konflikte beizulegen … auf weltweiter Ebene.
Wir sehen uns einer echten kriminellen Gegengewalt gegenüber, die in der Lage ist, rechtmäßigen Staaten ihren Willen aufzuzwingen, Institutionen zu unterminieren, die Gesetz und Ordnung sichern sollen, das empfindliche wirtschaftliche und finanzielle Gleichgewicht zu stören und das demokratische Leben in Gefahr zu bringen. «
Bericht des Expertenausschusses an die Versammlung der Vereinten Nationen, 20. März 1990.
»Was halten Sie davon?« fragte Aston, nachdem er das Fax gelesen hatte.
Chan schaute aus seinem Bürofenster auf den Dunstabzug des gegenüberliegenden Hauses, aus dem die übelsten Dämpfe quollen. Das hinderte allerdings die amahs nicht, ihre Wäsche draußen an langen, bunten Bambusstangen aufzuhängen.
»Ich habe das Gefühl, daß das mehrere Nummern zu groß für uns wird.«
»Zu groß?«
»Denken Sie drüber nach.«
Chan ließ Aston allein im Büro, während er Zigaretten kaufen ging. Als er sich durch die Menschenmenge über die Prince Edward Road kämpfte, dachte er: Eine Nummer zu groß ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Zu heikel? Warum hatte er nicht schon längst mit den Ermittlungen aufgehört? Moiras Fax war auf den gestrigen Tag datiert. Zwei Tage! Vermutlich hatten es schon alle gelesen, bevor es an ihn weitergeleitet wurde, der Commissioner, die Sicherheitsleute, Cuthbert, einfach alle. Es würde ihn nicht wundern, wenn selbst Emily eine Kopie davon erhalten hätte. Das Fax sagte alles, alles über die Richtung, die seine Nachforschungen nahmen, die Implikationen für die gegenwärtige und zukünftige
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