Die letzten Tage von Hongkong
verlieren. Das war ein Pilotprojekt. Sie als Frau konnte man leicht verstoßen, wenn etwas schiefging. Wenn sie die Sache verpatzte und dabei ums Leben kam, war nicht viel verloren. Sie konnten auf eine suchtkranke Lesbe leicht verzichten. Und sie war ehrgeizig, sehr ehrgeizig. Das Projekt war ausschließlich ihre Idee. Ich könnte deswegen fast stolz auf sie sein. Und noch eins: Wer sonst wäre gefahren? Haben Sie eine Ahnung, wieviel Angst die Italiener vor dem mysteriösen Osten haben? Hier haben wir keine Strukturen und keine Orientierungspunkte. Aber jemand mußte fahren. Sobald Clare ihnen den Floh ins Ohr gesetzt hatte, mußte jemand etwas unternehmen. Sie waren deswegen ganz aufgeregt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Konkurrenz auf denselben Gedanken kam. Wenn es den Sizilianern gelang, außer Rußland auch noch den Fernen Osten an sich zu ziehen, würden sie zur größten kommerziellen Organisation der Welt. Sie haben vielleicht gemerkt, daß ich kommerzielle Organisation gesagt habe, nicht kriminelle. Etwas Größeres gäbe es nicht, niemand wäre einflußreicher, nicht McDonald’s, nicht Shell, nicht Coca Cola – niemand. Sie hätten einen jährlichen Umsatz, der höher wäre als das Bruttosozialprodukt aller Länder, abgesehen von Amerika und Japan. Also haben die Amerikaner Clare geschickt, um unseren Cousins aus Palermo zuvorzukommen.«
»Aber es ist etwas schiefgelaufen?«
»Genau. Keine Sorge, ich bin nicht hier, um herauszufinden, was. Ich bin nur hier, um lose Enden miteinander zu verknüpfen. Die 14K, nicht das FBI, hat sich die zahnmedizinischen Unterlagen unter den Nagel gerissen. Sie will wissen, ob die Kerle in dem Bottich von ihnen waren.«
»Und deswegen sind Sie hier?«
»Tja, wahrscheinlich.«
»Die Mafia hat Sie im Namen der Triaden geschickt?«
»Schließlich bin ich ihr Vater, oder?«
Also wollte er nicht bei den Ermittlungen behilflich sein oder ein guter Bulle werden. Ganz im Gegenteil: Er befolgte sogar noch Befehle, während der Krebs schon seine Eingeweide zerfraß. Das war der einzige Weg, wieder aus der Cosa Nostra herauszukommen, hatte Chan irgendwo gelesen. Vielleicht wehrte Coletti sich deshalb nicht allzu heftig gegen die Krankheit.
Als sie sich vor Colettis Hotel verabschiedeten, sagte Chan: »Ist Moira zu Ihnen gekommen, bevor Sie nach Hongkong geflogen sind?«
Coletti zögerte einen Moment. »Ja. Das mußte sie. Schließlich habe ich sämtliche Zahnarztrechnungen von Clare bezahlt; nur ich habe die Unterlagen loseisen können. Moira kannte nicht mal den Namen von Clares Zahnarzt.«
Wieder diese zahnmedizinischen Unterlagen. Sie hatten ihm in den Ermittlungen zu diesem Fall schon so oft geholfen. Die Lösung des Rätsels schien sich fast ohne sein Zutun zu ergeben. Doch das war oft so in der Kriminalistik. Der Polizist war nichts anderes als ein Laternenpfahl, um den die Informanten sich versammelten und sagten, was sie zu sagen hatten.
EINUNDVIERZIG
Am Anfang war das Wort. Es wurde gesungen, nicht gesprochen. Unsere Vorfahren vom Pekingmenschen im Osten bis zum Cromagnon im Westen sangen Anweisungen für die Jagd, Ratschläge für die Kinder, Gebete an die Götter, die für die Mammuts sorgten. Sie hätten die flachen, toten Sprachen unserer Zeit wahrscheinlich als tonloses Gezwitscher von Geistern abgetan. Nur wenige Sprachen haben noch etwas von dieser neolithischen Musik: Das Französische ist die glasierte Form, das Italienische gibt sich mehr Mühe als die meisten anderen Sprachen, Thai kann lyrisch sein, Mandarin erreicht Momente sublimen Tönens, doch die älteste Sprache der Welt ist gleichzeitig auch die musikalischste. Mit ihren neun Tönen, die alle Unterschiedliches bedeuten können, stellt das Kantonesische eine ziemliche Herausforderung für ein wenig geschultes Bronxer Ohr dar.
Moira spielte die Kassette ab und wiederholte artig: nei ho ma? Wie geht’s? nei hui bin do a? Wohin gehen Sie? m sai jaau lak. Behalten Sie das Wechselgeld. Die einsilbigen Wörter waren schwierig zu behalten, trotzdem baute sie sich mühsam ein bescheidenes Vokabular auf. Nie beherrschen würde sie allerdings die steigenden und fallenden Töne, das wußte sie schon. Das Lehrbuch warnte, daß ein und dasselbe Wort »Mutter«, »Schachtel«, »Opium« oder noch Dubioseres bedeuten konnte, je nachdem, welchen Tonfall man verwendete, und ob man das Wort mit einer Hebung oder einer Senkung beendete. Selbst nach vielen Stunden des Übens fiel es ihr schwer,
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