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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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programmierbare Nummern, doch Chan benötigte nur eine. Er gab Moiras Faxnummer ein, steckte ein Blatt Papier in das Gerät.
    Chan sah fasziniert zu, wie es seine Botschaft brummend verdaute und ihm mit drei Piepstönen mitteilte, daß die Nachricht die Bronx erreicht hatte. Dann spuckte es das Papier wieder aus. Er las es noch einmal durch:
    Danke für das Fax. Schön, daß Du Dich gemeldet hast. Ich würde Dich auch gern wiedersehen. Ho lak ngoh yiu: Ich muß los jetzt. Joi gin: Bis bald. Charlie.
     
    Stolz auf seine Leistung rasierte Chan sich und ging zum Revier, neugierig auf die Filme.
     
    Um zehn Uhr vormittags kam endlich ein Bote mit einem großen braunen Umschlag, auf dem in dicken schwarzen Lettern »Im Dienste Ihrer Majestät« aufgedruckt war. Darüber hatte jemand etwas Rotes gestempelt: Polizei, geheim. Aston sah Chan zu, wie dieser den Umschlag aufriß und die Fotos auf seinen Schreibtisch gleiten ließ. Er wollte sie sich gerade genauer ansehen, als das Telefon klingelte.
    »Ich bin’s«, sagte Saliver Kan und räusperte sich. »Ich glaube, ich kann Ihnen das, was Sie wollen, besorgen. Es wird ein paar Tage dauern, und es wird nicht billig sein.«
    »Wieviel wird’s kosten?« fragte Chan mit seiner besten Händlerstimme.
    »Zehn Millionen.«
    In der Ming-Dynastie, vielleicht auch schon früher, hatte sich ein festes Ritual für den Beginn der Verkaufsverhandlungen etabliert: Der Verkäufer nennt einen absurd hohen Preis, der Käufer verläßt das Geschäft und kommt nur dann wieder zurück, wenn der Verkäufer sich, gewöhnlich in unterwürfigem Tonfall, zu Verhandlungen bereit erklärt (»Na gut, na gut, kommen Sie zurück, wir können ja miteinander reden«). Das gleiche ließ sich heutzutage auch am Telefon durchführen.
    »Fick dich ins Knie«, sagte Chan und legte auf.
    Dann sah er sich die Fotos eins nach dem anderen an. Die Kamera gleich beim Eingang hatte mehrere Bilder hintereinander aufgenommen – eine abgerissene Blue jeans und nackte Füße in Plastiksandalen. Das Foto war verschwommen, weil das Motiv sich schnell bewegt hatte. Wieder klingelte das Telefon. Er schenkte ihm keine Beachtung. Eine Kamera an einer der Säulen hatte dünne, krallenartige Hände erwischt, die nach der Neonröhre griffen. Aston trat neben Chan und nahm den Telefonhörer ab.
    »Der Chief ist beschäftigt«, sagte er in passablem Kantonesisch. Chan hob kurz den Blick und wandte sich dann wieder den Fotos zu. »Er sagt fünf Millionen«, informierte Aston ihn auf Englisch, die Hand auf dem Hörer, doch da bekam Chan schon nichts mehr mit, weil seine Aufmerksamkeit sich auf etwas anderes konzentrierte. Er wurde blaß, als er das verschwommene Bild von leicht schrägen Eurasieraugen, kurzem, dichtem, schwarzem Haar und einem fein geschnittenen Gesicht sah, das er kannte.
    »Rufen Sie später noch mal an«, sagte Aston in den Telefonhörer und legte auf. Er starrte das Bild an, das Chan so aus der Fassung gebracht hatte – und verstand nichts.
     
    In seinem letzten Ausbildungsjahr in den New Territories hatte Chan an einer Übung teilgenommen, die das englische Erziehungssystem zur Charakterbildung einsetzte. Eines Nachmittags hatten der Lehrer und die Gruppe Chan mit einem Kompaß, einer Karte, einer Wasserflasche und ein paar Essensrationen ganz allein im Busch zurückgelassen. Eigentlich hätte das eine einfache Kompaßübung werden sollen, doch das Gerät war kaputt. Chan lief in der schwülen Hitze herum, ziemlich sicher, daß er in der richtigen Richtung unterwegs war.
    Dichte Wolken verdeckten die Sonne. Als es Nacht wurde, begann er zu verzweifeln, obwohl man wahrscheinlich irgendwann nach ihm suchen würde. Endlich rissen die Wolken auf, und die Sterne kamen heraus. Er entdeckte den Großen Wagen, dessen letzte beide Sterne immer, das hatte er gelernt, zum Nordstern wiesen. Dort war er, der Nordstern, fast genau dort, wo er ihn am allerwenigsten vermutet hätte. Kopfschüttelnd drehte er die Karte um hundertachtzig Grad und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nach einer Stunde war er wieder im Lager. Bei seinen Ermittlungen ging es ihm manchmal genauso.
    Unter den Blicken Astons holte er ein kleines Messer mit einziehbarer Klinge aus der Schublade, schnitt das Foto von dem Eurasiergesicht knapp unterhalb der Augen horizontal durch und legte die untere Hälfte auf ein Bild Clares, das Moira mitgebracht hatte. Dann sah er Aston an, der ihn ungläubig anstarrte.
    »Aber sie ist doch tot«, sagte Aston.

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