Die letzten Tage von Hongkong
Verhalten. Er wendet sich ab, und sie nehmen ihre Position neben ihm, einen halben Schritt hinter ihm, wieder ein. Es ist kein Alptraum im strengen Sinne, nicht einmal ein Traum, denn wenn er aufwacht, sind sie immer noch da. Die Erklärung ist einfach: Er verliert den Verstand.
Er weiß auch, warum. Er hat es dem Gesicht von Chief Inspector Jack Siu angesehen. Wenn er auf den Fluren des Polizeireviers oder auch des Polizeipräsidiums in der Arsenal Street an anderen Senior Officers vorbeigeht, bemerkt er ein Gefühl der Verachtung, das sie zu verbergen suchen. Ganz allmählich ist es bis zu den niedrigeren Rängen durchgedrungen. Und wenn dieses Gerücht, wie immer es auch lauten mag, auf der Inspector-Ebene angelangt ist, werden sie sich auf ihn stürzen. Nur weil man paranoid ist, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht wirklich hinter einem her sind. Zwei Tage, nachdem Emilys Leiche gefunden worden war, empfand er die Atmosphäre zwischen sich und den anderen Beamten wie eine Glaswand. Als er das Polizeirevier betrat, wandten sie die Gesichter ab und sahen ihm dann verstohlen nach, wenn er vorbei war. Aston hob nicht einmal den Blick, als er in sein Büro kam.
»Irgendwelche Nachrichten?«
Aston hob verlegen und mit rotem Gesicht den Kopf. »Nur etwas von Siu aus der Arsenal Street. Sie haben dort heute morgen um elf Uhr einen Termin.«
Aston senkte den Blick. In der Kantine sah Chan, daß das Gerücht schon bei der Frau angelangt war, die den Tee ausgab. Für die Chinesen ist Pech eine Seuche. Sie sah ihm nicht in die Augen und verschwand in der Vorratskammer, sobald sie ihm seinen Tee gegeben hatte. Dann hörte er, wie sie den anderen Mitgliedern der Belegschaft zuflüsterte: Pechvogel. Von der Kantine ging er zum Eingang und hinaus auf die Straße. Nur in der Menge gelang es ihm, seine Schande zu kaschieren. Er setzte sich bis halb elf in ein Café und rauchte, dann fuhr er mit der U-Bahn zur Arsenal Street.
An der Rezeption war klar, daß er bereits erwartet wurde. Man führte ihn in ein großes Konferenzzimmer, wo sich eine kleine Gruppe hoher Beamter, unter ihnen auch Riley, unter der Leitung von Commissioner Tsui befand. Jack Siu war der Rangniedrigste. Er saß in der Mitte des Tisches, einen dicken Ordner zu seiner Linken. Rechts von ihm lag ein durchsichtiges Plastiksäckchen mit einem Damenlackledergürtel von Chanel. Man sagte Chan, er solle am hinteren Ende des Tischs Platz nehmen, gegenüber von Tsui. Tsui bat Riley anzufangen. Eine Stenographin, die Chan bis dahin nicht aufgefallen war, begann in einer Ecke des Raumes mit Bleistift in ein Notizbuch zu schreiben; zusätzlich verwendete sie einen Kassettenrekorder, den sie einschaltete, als Riley etwas von tiefem Bedauern und Verlegenheit sagte. Nach einer langen, ausufernden Ansprache wandte er sich Jack Siu zu.
»Ihre Fingerabdrücke waren auf dem Gürtel um Emily Pings Hals«, sagte Siu und sah Chan an. »Vielleicht gibt es eine Erklärung. Wenn nicht, müssen wir Sie wegen Mordes verhaften.«
»Normalerweise würde ich Sie bis zur endgültigen Klärung des Falles vom Dienst suspendieren«, sagte Tsui und wich Chans Blick aus. »Angesichts des Drucks jedoch, der hinsichtlich der Fleischwolfmorde auf uns ausgeübt wird, werden Sie daran weiterarbeiten – bis auf weiteres. Sie werden einen Anwalt brauchen. Versuchen Sie nicht, Hongkong zu verlassen, man würde Sie aufhalten. Sie können gehen.«
EINUNDFÜNFZIG
Als Kind war Chan oft im Westen der New Territories gewesen, hauptsächlich zum Muschelfischen. Er erinnerte sich an Reisfelder und Ententeiche mit Fischen. Die Symbiose der Teiche faszinierte den Chinesen in ihm: Die Enten saßen den ganzen Tag auf dem stillen Wasser und schissen. Ihr Kot düngte den Teich, in dem Algen und andere Pflanzen wachsen konnten, von denen sich wiederum die Fische ernährten. Entweder man verfütterte die Fische an die Enten, oder man verkaufte die Fische und die Enten am Ende der Saison. Das war ein Beispiel für Geld, das aus dem Nichts wuchs – östliche Magie in Reinkultur.
Die Enten jedoch zahlten sich längst nicht so gut aus wie die Containergesellschaften. Als er jetzt über den niedrigen Hügel kam, sah er sie – eine horizontale Stadt, die in der Hitze dahintrieb; bei näherem Hinsehen war es eine Nekropolis aus übereinandergestapelten Stahlgräbern in zwei Größen: sechs mal zweieinhalb mal zweieinhalb Meter oder zwölf mal zweieinhalb mal zweieinhalb Meter. »Roll on roll off«,
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