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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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aussuchen. Außerdem wäre sein Vorgehen nur zum Besten des Chief Inspector. Nach der Übergabe im Juni wäre Hongkong kein idealer Aufenthaltsort mehr für einen Mann, der zuviel wußte.
    Aus einer Schublade in seinem Schreibtisch holte er ein einzelnes Blatt Papier, die verwaschene Xerokopie einer Nachricht, die mit groben chinesischen Schriftzeichen bedeckt war. Auf der Kopie befand sich der Aufdruck »Top Secret« des MI6, der im Rahmen einer routinemäßigen geheimdienstlichen Aktion jenseits der Grenze an das Dokument gelangt war und es an Cuthbert weitergegeben hatte. Eigentlich war dieses Papier nicht sonderlich geheim, weil das, was darin stand, der kommunistischen Regierung Südchinas höchstwahrscheinlich bekannt war. Cuthbert hatte es aufbewahrt, ohne völlig davon überzeugt zu sein, daß es für Chans Ermittlungen relevant werden könnte.
    In dem Schreiben, das von einem Beamten des kommunistischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit verfaßt war, hieß es in Worten, die fast schon zornig zu nennen waren, zwei hohe, in Guangdong stationierte kommunistische Kader seien plötzlich verschwunden, und – hier lag der Haken – dieses Verschwinden schien nicht mit Nachforschungen des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit über deren Aktivitäten zusammenzuhängen. Im Gegenteil, alles wies darauf hin, daß sie von konterrevolutionären oder kriminellen Elementen entführt worden waren. Die Entführung hatte ungefähr zu dem Zeitpunkt stattgefunden, als die Mordopfer in Chans Fall gestorben waren. Cuthbert hatte keinerlei Beweise dafür, daß das Verschwinden der beiden Kader mit den Fleischwolfmorden in Verbindung stand, aber einen besseren Grund, warum General Xian sich so für Chans Ermittlungen interessieren sollte, konnte er sich nicht vorstellen.
    Cuthbert hatte wie viele andere erfolgreiche Kollegen mit Hilfe eines mächtigen und einflußreichen Mannes Karriere gemacht, der ihn gut leiden konnte. Mit dem Füller schrieb er eine Notiz auf ein leeres Blatt Papier und wies seinen Sekretär an, es an eine Privatadresse in London zu schicken. In dem Brief stand:
    Michael, wir müssen miteinander reden. Wenn Sie sich für ein paar Tage freimachen könnten, wäre ich Ihnen auf ewig dankbar. Milton.

NEUN
    Sie nannten sie Polly, weil sie sie in einer Polyäthylen-Tüte gefunden hatten. Ihre beiden chinesischen Begleiter nannte Aston Jekyll und Hyde – das war englischer Humor.
    Angie, die Expertin von der Gerichtsmedizin, heilte alle Wunden. Mit Airbrush hauchte sie Polly Leben ein und verhalf ihr zu neuer Jugend. Sie war achtundzwanzig oder neunundzwanzig, auf keinen Fall viel älter als dreißig. Grüne Augen mit schweren Lidern lächelten jetzt über hohen Wangenknochen, und federnde Haare mit Mittelscheitel fielen ihr über die Stirn. Sie hatte eine neue, angloamerikanische Nase bekommen, die steil in den Himmel ragte. An den Wangen hatte Angie die Schwellungen, die der Tod mit sich brachte, entfernt, und mit einem Stift beseitigte sie die blauen Flecken an den Schläfen. Dann steckte sie kleine Perlen in die Löcher ihrer nagelneuen Ohren. Besondere Aufmerksamkeit verwendete sie auf Pollys neue Lippen: Sie waren schmal und ein wenig geschwungen.
    Aston verliebte sich sofort in sie. Chan starrte sie länger an als Jekyll und Hyde. Wer war sie? Er stellte die Fotos von ihr und ihren beiden Begleitern auf die linke Seite seines Schreibtischs, direkt vor das Bild eines sehr jungen eurasischen Polizisten, der gerade vom damaligen Gouverneur Sir Murray Maclehose eine Auszeichnung für Tapferkeit erhielt.
    Ein schwarzes Telefon beherrschte die andere Seite des Schreibtischs. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte sich in den Polizeibüros nichts verändert. Es gab darin immer noch dieselben Metallregale, grauen Aktenschränke, gelbbraunen Pappakten, abgegriffenen Gesetzestexte und den kleinen Metallschrank, in dem Chan seit zehn Jahren dasselbe weiße Hemd und dieselbe Krawatte aufbewahrte. Die Gerichtsmedizin hatte gewaltige Fortschritte gemacht, doch auf Chans persönliche Umgebung hatte die Technologie lediglich eine einzige Auswirkung gehabt: Die Schreibmaschine war verschwunden. Die alten schwarzen Smith Coronas, die siebzig Jahre lang treu die Abgründe der menschlichen Natur aufgezeichnet hatten, waren auf dem Müll gelandet, und mit ihnen verschwand auch das blitzschnelle Zweifingersystem, das die Polizeibeamten genausogut beherrscht hatten wie die Zeitungsreporter. Wieder eine hart

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