Die letzten Tage von Hongkong
Restauranttische. Das beleuchtete chinesische Schriftzeichen für Peking brach sich darin bis in die Unendlichkeit.
ACHT
Zwei Stunden später hatte Milton Cuthbert einen Text verfaßt und als Fax über eine Sicherheitsleitung ans Außenministerium in London geschickt. In dem Fax bat er das Ministerium, den Gouverneur anzuweisen, Chan über den Commissioner of Police den Fall zu entziehen. Ohne Erklärung, das wußte Cuthbert, würde es dem Außenministerium schwerfallen zu glauben, daß ein Hongkonger Polizist eine Bedrohung für die internationalen Beziehungen darstellen könnte.
Cuthbert bewunderte die Hartnäckigkeit des Chief Inspector. Der Commissioner of Police war Chan mit seinem kurzen Bericht alles andere als gerecht geworden. Cuthbert hatte herausgefunden, daß Chan bei der Aufklärung von Schwerverbrechen eine neunzigprozentige Erfolgsquote hatte. Es hieß außerdem, bei den verbleibenden zehn Prozent gelinge es Chan im allgemeinen, die Schuldigen zu finden. Doch meist fehlt es an ausreichenden Beweisen für eine Anklage. Chan war ein brillanter Polizist, vielleicht aber auch ein gefährlicher Fanatiker – das kam ganz darauf an, hinter welchem Schreibtisch man saß.
Der Diplomat war bekannt für seine Fähigkeit, auf einer halben Seite das Wesen eines jeden Problems zu erfassen, egal, wie komplex es auch sein mochte. Und genau diese Fähigkeit hatte er nach dem Treffen mit Tsui und Caxton eingesetzt. Erst nachdem er das Fax losgeschickt hatte und sich mit einem Glas Cognac in seiner Wohnung entspannte, begann er, seine Grundposition während der Zusammenkunft in Frage zu stellen. London würde keinesfalls eine öffentliche Diskussion über das riskieren, was in diplomatischen Kreisen, die sich mit dem Fernen Osten befaßten, ein offenes Geheimnis war: Die Armee der Volksrepublik China war die größte kriminelle Organisation der Weltgeschichte.
Falls diese Aussage mit einer offiziellen Quelle in Verbindung gebracht wurde – da reichte schon ein kleiner Polizist in Hongkong –, erwartete man wahrscheinlich auch so kurz vor der Übergabe noch von Großbritannien, daß es etwas zum Schutz der sechs Millionen in Hongkong lebenden Menschen gegen die von jenseits der Grenze drohende Gefahr unternahm. Doch London wünschte sich nichts sehnlicher, als überhaupt nichts tun zu müssen, bis die Kolonie am 30. Juni um Mitternacht sicher an Peking übergeben wäre. Nach diesem Zeitpunkt konnten die Briten dann die wachsende Korruption und den fast sicheren Verlust der Menschenrechte in ihrer ehemaligen Kolonie beklagen, ohne selbst noch dafür verantwortlich zu sein. Gegenwärtig jedoch erregte jedes Verbrechen, für das General Xian sich interessierte, zwangsläufig Besorgnis, weil seine Aufdeckung höchstwahrscheinlich Enthüllungen über Xians umfangreiche Verbindungen zur Unterwelt zur Folge hatte. So würde London argumentieren, souffliert von Cuthbert.
Oder nicht? Im vergangenen Jahr war General Xians Einfluß enorm gewachsen. Zahlreiche subtile Hinweise hatten Cuthbert zu einem fast undenkbaren Schluß geführt: Möglicherweise konnte Xian sogar ihn übergehen und direkt mit seinen Vorgesetzten in Whitehall verhandeln. Und Xian wollte mehr als alle anderen, daß Chan seine Ermittlungen fortsetzte – aus Gründen, die Cuthbert nur erraten konnte.
Die Antwort kam schneller als vermutet. Als er am nächsten Morgen um halb neun sein Büro betrat, wartete bereits ein als top secret eingestuftes Fax auf ihn:
Nach Ansicht der Behörden ist Chief Inspector Chan für die fraglichen Ermittlungen höchst qualifiziert. Wir sehen keinen Grund, unsere Politik der Nichteinmischung in interne Fragen der Polizei zu verändern. Ihre Empfehlung wird abgelehnt.
Cuthbert machte sich eine ganze Weile Gedanken über das Fax. Er war zu lange im Auswärtigen Dienst, um eine solche Anweisung als endgültig anzusehen. Die hierarchische Struktur des Außenministeriums ähnelte mit seinen Rängen und Statusnuancen dem Kastensystem der Hindus. Der Verfasser der Botschaft, bemerkte er, hatte genau den gleichen Rang wie er selbst. Cuthbert war ein erfahrener Papierkrieger und beschloß, mit Argumenten an eine höhere Stelle heranzutreten, denen sich die Brahmanen ganz oben nicht verschließen konnten. Er hatte nicht vorgehabt, die Sache mit Chief Inspector Chan, vor dem er die größte Hochachtung hatte, fanatisch zu betreiben, aber in der Diplomatie wie im richtigen Leben kann man sich seine Feinde nicht immer
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