Die letzten Tage von Hongkong
neuntausendsechshundert Quadratmeter große Schatztruhe. Im Liftbereich des achten Stocks verwehrten noch immer Absperrungen der Polizei mit der Aufschrift »Kein Zugang« den Zutritt zu allen vier Türen. Die Besitzer, so hatte Chan ausgerechnet, verloren pro Tag zehntausend Hongkong-Dollar an Mieteinnahmen.
Er schob eine Absperrung beiseite und drückte eine der großen Stahltüren auf.
»Hallo? Hallo?« rief er, nur für den Fall, daß Riley und Aston schon eingetroffen waren. In dem Raum gab es keine Fenster, sein Gruß verhallte im schwarzen Nichts. Dann fiel ihm ein, daß sich an der Wand gleich beim Eingang auf Schulterhöhe ein Lichtschalter befand. Auf dem ganzen Stockwerk gingen die Neonröhren flackernd an. Die Röhre über der Stelle, an der der Bottich gestanden hatte, blinkte brummend wie ein Hornissenschwarm. Am anderen Ende des Raums fand Chan ein paar Trittleitern, die auf jeder Stufe die Buchstaben »RHKPF« eingeprägt hatten. Chan trug sie zu dem Viereck aus Kreide, das die Position des Bottichs zur Zeit der Entdeckung markierte, und kletterte hinauf, um die Neonröhre zu entfernen. Sie wurde von zwei Plastikclips festgehalten, in denen sich die elektrischen Kontakte befanden. Er zog eine lange Plastikplatte heraus, hinter der sich der Starter und das Kabel verbargen. Neben dem Starter hatte jemand ein kleines Plastiksäckchen festgeklebt. Er holte das Säckchen mit einem Taschentuch heraus. Auf der anderen Seite des Raums, gleich neben der Tür, bewegte sich etwas.
» Wai? Wai? «
Rileys Kantonesisch erinnerte Chan an zwei fauchende Katzen.
»Hier drüben.«
Aston folgte Riley in die Mitte des leeren Raumes. Die beiden blieben unter Chans Trittleiter stehen. Astons Gesicht war verschwitzt, riesige Schweißflecken zeichneten sich unter den Armen und auf dem Rücken des Chief Superintendent ab. Chan brachte die Plastikplatte und die Röhre wieder in der Halterung an. Das Taschentuch mit dem Plastiksäckchen hielt er auf der offenen Handfläche, während er die Leiter herunterkletterte. Als er unten war, zeigte er ihnen das Säckchen, zog es aber weg, als Riley versuchte, es zu berühren.
»Fingerabdrücke«, sagte Chan.
Er hielt das Säckchen gegen das Licht. Weißes Pulver, zu fein für Zucker oder Salz und zu grob für Mehl. Wenn Riley als nächster den Mund aufmacht, dachte Chan, ist’s unverschnittenes Heroin.
»Was ist drin?« fragte Riley.
»Ich würde sagen, unverschnittenes Heroin. Beste Qualität. Aber das müssen wir natürlich zuerst von der gerichtsmedizinischen Abteilung klären lassen.«
»Komisch, daß wir das noch nicht früher entdeckt haben.«
»Die Röhre hat vorher auch noch nicht geflackert.« Chan kaschierte die Verlegenheit über seine Unterlassung durch seinen aggressiven Tonfall.
Er hob die Leiter hoch. Dabei bemerkte er die blau-schwarzen Käferkadaver, die rund um das weiße Rechteck lagen. Das Licht verwandelte sie in winzige, schillernde Schalen, wie Perlen von einer abgerissenen Kette. Er sah, daß auch Riley sie anstarrte. Chan stellte die Leiter wieder ab, nahm einen der Käfer in die Hand und winkte Riley heran.
»Ein Hinweis«, sagte Chan. Riley blinzelte. »Die Käfer haben uns verraten, daß die Überreste der Leichen sich seit ungefähr sieben Tagen hier befunden haben. Am ersten Tag kommen die Fliegen und legen ihre Eier ab. Das kriegen die Ameisen mit, die die Fliegenlarven fressen. Die Ameisen ziehen wiederum Wespen an. Am fünften oder sechsten Tag ist dann das reinste Festgelage im Gange. Menschen, die in ihrem Leben nie jemanden zum Abendessen eingeladen haben, ernähren als Tote plötzlich Millionen. Die Käfer allerdings sind langsam, sie brauchen ungefähr sieben Tage, bis sie hier sind.« Chan hielt den Käfer auf der Hand wie ein Spielzeugauto. »Aber jetzt kommen sie über den rauhen Boden herangekrochen. Die besten Häppchen sind schon weg, doch das macht ihnen nichts aus. Sie mögen sowieso lieber trockene Haut. Als wir ihnen den Bottich weggenommen haben, sind sie verhungert.«
Riley schluckte.
»Wir haben hier alles genau abgesucht«, fuhr Chan fort und warf den Käferkadaver zurück auf den Boden. »Wir haben die Beleuchtungskörper nicht überprüft, weil wir nicht nach Drogen suchten, sondern nach Hinweisen auf einen Kampf, nach Seilen, Knebeln, abgewetzten Stellen, Kleiderfetzen, Kratzspuren von Fingernägeln, abgerissenen Fingernägeln, Blutspuren. Solche Sachen entdeckt man nicht in Lampen. Wir haben sowieso nichts
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