Die letzten Tage von Hongkong
Dämpfe absorbierten. Nach ein paar Sekunden wurden die Geheimnisse des Buches sichtbar: Zahllose Fingerabdrücke, einer über dem anderen, als habe sich eine ganze Armee worthungriger Soldaten darum gestritten. Es war höchst unwahrscheinlich, daß es Tsim gelingen würde, in dem Chaos zehn eindeutige Identifizierungspunkte zu finden, aber trotzdem machte er ein Foto. Dann nahm er den Umschlag heraus und legte die erste Seite, die er herausgeschnitten hatte, in das Kästchen.
Während Tsim sich vorarbeitete, sah Chan, daß zwar viele Leute das Buch in der Hand gehabt hatten, daß es aber letztlich nur einen wirklichen Liebhaber gefunden hatte. Am unteren und oberen Ende einer jeden Seite tauchte immer wieder derselbe Finger- und Daumenabdruck auf. In der Mitte hatte ein schmaler Daumen das Buch auseinandergedrückt. Chan hielt den Atem an: Hier war sie also endlich, diese unstete junge Frau mit den kurzen Haaren. Rief sie immer noch um Hilfe? Chan konnte den Blick auch dann noch nicht abwenden, als Tsim alle Fotos gemacht hatte, die er brauchte. Die violettfarbenen Wirbel waren wie Höhenlinien auf einer Landkarte; jeder Abdruck war so etwas wie ein winziger Berg der Identität.
Als Chan wieder in seinem Büro in Mongkok war, bat er Aston, ihm die Telefonnummer der New Yorker Polizei und der New York University herauszusuchen.
Am Nachmittag wurde Chan allmählich unruhig. Moira hatte nicht angerufen. Er konnte das verstehen: Was sollte sie ihm schließlich sagen? Aber trotzdem machte er sich Sorgen. Wie sollte er den Selbstmord der Mutter eines Mordopfers in der Wohnung des ermittelnden Polizeibeamten erklären? Seine Gesichtsmuskeln zuckten wie wild, als er schwitzend an seiner Wohnung anlangte.
Sie saß mit nachdenklichem Gesicht über der Akte und gab lediglich ein grunzendes Geräusch von sich, als er eintrat. Er stellte sich hinter sie und versuchte zu sehen, wieviel sie bereits gelesen hatte.
»Es ist okay, ich hab’s schon zweimal gelesen. Ist mir angenehm, daß Sie’s so gemacht haben – das ist viel besser, als vor Ihnen zusammenzubrechen. Das hab’ ich bereits hinter mir – ich meine, zusammengebrochen bin ich schon.« Sie hob den Blick. »Aber ihr seid ganz schön auf Draht hier drüben. Die Akte ist die beste, die ich seit langem gesehen habe. Qualitätsarbeit.«
Er warf einen Blick auf den Boden. Die Flasche Scotch war halbleer.
»Tut mir leid.« Sein Englisch war perfekt, klang aber bisweilen ein wenig trocken. Gab es denn keine andere Wendung, die man in solchen Augenblicken benutzen konnte? Wieder sagte er: »Tut mir leid.«
Sie erhob sich mit einem grunzenden Geräusch. Ihre Beine waren wackeliger als ihre Stimme. Sie schwankte ein bißchen auf dem Weg zum Fenster.
»Nein.« Er machte einen Schritt in ihre Richtung, doch es war schon zu spät. Sie riß das Fenster so heftig auf, daß es mit lautem Knall gegen die Wand krachte.
Alle Gerüche Mongkoks drangen in die Wohnung: Diesel, angebranntes Glutamat, gebratener Reis, gebratene Nudeln, die Dünste der chemischen Reinigung, verbrannter Gummi, brennendes Benzin, die Abluft der U-Bahn, Hamburger, Kochfett, Körpergerüche. In Mongkok macht niemand das Fenster auf.
Moira lehnte sich hinaus, schrie einmal so laut sie konnte, hustete fürchterlich und machte das Fenster wieder zu.
»Deswegen hab’ ich auf Sie gewartet. Allein hab’ ich mich das nicht getraut.«
Dann ging sie mit festeren Schritten auf ihn zu. Sie umarmte ihn, drückte ihn hart an sich. Ihre Tränen liefen seinen Nacken hinunter. Abgesehen von ihrem Schluchzen gab es kein Geräusch im Raum. Es dauerte Minuten, bevor er ihre Stimme hörte, ihr Gesicht so nah an seinem Ohr, daß er die feinen Haare um ihren Mund spüren konnte. Ihre Stimme war leise, sanft, tröstend, als sei er es, der Qualen erlitt.
»Ich werde Sie jetzt um etwas Schreckliches bitten, Charlie. Sie können nein sagen. Wenn Sie heute abend nach Hause kommen, werden Sie dann mit mir schlafen? Ich habe Angst, auf ewig zu verdorren, wenn ich heute nicht noch etwas Lebensbejahendes mache.«
FÜNFZEHN
Jonathan Wongs Anwaltskanzlei war zwar nicht die größte in Hongkong, hatte aber ausschließlich betuchte Klienten. Chans Schwager teilte diese Leute, die bei ihm Rat suchten, in drei Gruppen ein: die Reichen, die sehr Reichen und die Superreichen.
Nur die Reichen zahlten selbst fürs Mittagessen, die höheren Kategorien erwarteten, eingeladen zu werden, besonders Emily Ping. Sie war aus mehreren
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