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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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was.«
    Chan ging in die Küche, um Gläser zu holen, dann machte er den Whisky auf und schenkte etwas davon ein. Der alte Mann sah das Glas kaum an, bevor er die Hälfte davon herunterkippte und zufrieden grunzte.
    »Du hast irgendwo recht. Man stelle sich nur mal diese Masse von Menschen vor: eins Komma vier Milliarden! Wie sollen die jemals miteinander kommunizieren? Ich versuche mir immer wieder einzureden, daß man irgendwo anfangen muß. Hongkong erschien mir dazu als geeignet. Aber hier haben die Leute andere Sorgen. Sie müssen Geld verdienen oder fliehen. Oder beides zusammen. Und außerdem glauben mir die Leute nicht. Ich bin zu alt, zu verdreht und nicht mal Kantonese. Wahrscheinlich halten die Leute mich für einen aufgeblasenen alten Furz.« Der alte Mann trank seinen Whisky aus, schmatzte und hielt Chan das Glas zum Nachschenken hin. »Ich bin aus der Zeit. So was Ähnliches hat Ezra Pound gesagt. Hör zu, würdest du dir meinen Vortrag anhören, solang wir noch nüchtern sind? Ich hab’ ihn aufgenommen. Ich habe gehört, daß Vertreter das heutzutage machen.« Er holte einen Kassettenrekorder von einem der Regale, stellte ihn neben sich aufs Sofa und schaltete ihn ein. Seine Stimme drang bedächtig und einlullend aus dem Gerät.
    » Sklaverei ist wie Malaria « , sagte die Stimme. » Noch vor vierzig Jahren schien sie bis auf wenige Gebiete auf der ganzen Welt ausgerottet zu sein. Aber nichts mutiert schneller als das Böse. Man wird sich wegen vieler schlimmer Dinge an das zwanzigste Jahrhundert erinnern, aber wer wird sagen, daß in diesem Jahrhundert zahlenmäßig am meisten Menschen seit Beginn der Geschichte versklavt worden sind? Niemand außer mir. «
    Ein schlechter Anfang, dachte Chan. Ein schockierender und komplexer Gedanke, der ohne Erbarmen vorgestellt wurde. Auf dem Band sagte eine Frau verärgert: » Sie haben uns nicht gesagt, warum Sie überhaupt ins Gefängnis gekommen sind. « – » Gute Frage. Als ich neunzehn war, hatte mein Vater genug gespart, um mir ein Studium der Geisteswissenschaften an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, in den Vereinigten Staaten finanzieren zu können. W ir schrieben das Jahr 1947. Ich habe mich auf englische und amerikanische Literatur spezialisiert. Nach meinem Abschluß bin ich zurückgekehrt, um am großen Abenteuer Sozialismus teilzunehmen, der größten Herausforderung und Umwälzung seit Anbeginn der Menschheit. «
    Es herrschte langes Schweigen, dann endlich sprach der alte Mann auf dem Band weiter: » Ich hatte gerade einen Monat lang an der Pekinger Universität Englisch unterrichtet, als die erste Säuberungsaktion durchgeführt wurde. Kein echter Kommunist konnte glauben, daß jemand dumm genug sein könnte, aus den Vereinigten Staaten wieder nach China zurückzukehren. Also hielten sie mich für einen Spion des Kapitalismus. Seit jenem Zeitpunkt war ich gebrandmarkt. «
    Chan stand auf, um den Kassettenrekorder auszuschalten. »Da hast du einen großen Fehler gemacht.«
    Der alte Mann verdrehte die Augen. »Ich weiß.«
    »Einem Chinesen darfst du nie erzählen, daß du gebrandmarkt bist, weil er sonst genau das mit dir macht.«
    »Ich weiß.«
    »Mein Gott, du hast mir doch alles beigebracht über die Kultur der Schande und die Kultur der Schuld.«
    Der alte Mann stöhnte. »Du bist ein gnadenloser Lehrer.«
    »Die Chinesen haben die Kultur der Schande par excellence. Gebrandmarkt zu sein, ist die schlimmste Strafe, so etwas wie ein Todesurteil. So manipulieren uns die herrschenden Klassen schon seit fünftausend Jahren.«
    Der alte Mann schaltete den Kassettenrekorder aus. »Du hast recht, damit habe ich sie endgültig vergrault. Das war alles viel zu ernst.« Er nahm das Glas in die Hand, das Chan nachgefüllt hatte.
    »Aber egal. Haben die recht oder ich? Ich mache mir Gedanken über das Schicksal der Menschen und die Obszönität der Sklaverei im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. In Neuseeland denken sie darüber nach, welche Waschmaschine sie sich anschaffen sollen und wie das Leben ohne ein Dienstmädchen von den Philippinen sein wird. Vielleicht ist meine Seele schwarz, aber zumindest habe ich eine Seele.«
    »Du solltest nicht so nachtragend sein«, sagte Chan. »Schließlich hast du vierzig Jahre Zeit gehabt, über die condition humaine nachzudenken. Die können von Glück sagen, wenn sie mal auf dem Heimweg in der U-Bahn fünf Minuten für so was haben.«
    Der alte Mann lächelte süffisant. »Beleidige meine

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