Die letzten Tage von Hongkong
Freund. Was glauben Sie denn, warum wir Ihnen so viel Geld zahlen und Ihnen einen Lebensstil ermöglichen, um den Sie der Präsident der Vereinigten Staaten beneiden könnte? Ihre Aufgabe ist es, unangenehme kleine Zwischenfälle in den Griff zu bekommen, die die Aasgeier von der Presse anziehen. Ach ja, danke fürs Mittagessen. Ich habe es wirklich sehr genossen.«
Cuthbert sah ihm nach, wie er durch die hohe Messingtür ging, die zwei Chinesen in weißen Uniformen für ihn aufhielten. Auf dem Rückweg zum Central District ertappte er sich bei der Überlegung, was Chief Inspector Chan wohl gerade machte, jetzt, da er so viel freie Zeit hatte.
SECHSUNDZWANZIG
Chan wanderte vom Bett zum Sofa zur Küche und wieder zurück.
Alle zwei Stunden ging er auf das schmutzige Dach des Hauses oder hinunter auf die Straße, wo es von Menschen nur so wimmelte.
Zum erstenmal bekam er mit, was in dem Haus los war. In der Wohnung über ihm lebte ein chinesisches Paar mit einer achtjährigen Tochter. Punkt Viertel vor acht fuhr der Mann mit dem Lift hinunter, um zur Arbeit zu gehen. Eine halbe Stunde später brachte die Frau die Tochter zur Schule. Chan hörte, wie sie sich im Aufzug mit einer Freundin über Geld und eine mögliche Auswanderung nach Neuseeland unterhielt. Unter ihm stritt sich ein französisches Paar beim Frühstück. Der Mann ging um halb neun zur Arbeit, die Frau blieb zu Hause. Von seinen Fahrten im Aufzug wußte Chan, daß sie um zehn Uhr von einem großgewachsenen Chinesen Besuch erhielt. Die französische Kultur gründete sich auf Ehebruch. Das hatte er irgendwo gelesen.
Er wehrte sich stoisch gegen die Versuchung, Moira in New York anzurufen. Statt dessen beschwor er die Erinnerung an ihre Brüste herauf, wenn auch nicht immer auf erotische Weise. Der verlockendste Tagtraum hatte damit zu tun, daß diese Brüste neben ihm auf dem Bett erschienen. Er stellte sich vor, zwischen ihnen zu schlafen. Chan litt jetzt, da er tagsüber nichts zu tun hatte, mehr denn je an Schlaflosigkeit. In der Nacht wüteten seine Gedanken.
Er stellte fest, daß das Fernsehprogramm für Menschen vorgesehen war, deren Geist sich durch die Arbeit des Tages erschöpft hatte. Jetzt, wo er Zeit hatte, die Programme bewußt anzuschauen, merkte er, daß sie völlig substanzlos waren. Er fragte sich, ob Erwachsene sich MTV tatsächlich ansahen.
Draußen summten die Straßen von Hongkong wie ein Hochspannungskabel. Wenn er hinausging, um Zigaretten oder Bier zu kaufen, sah er die Einwohner von Mongkok wie durch eine Glasscheibe – er beobachtete ihre hektische Energie, ihre Besessenheit von der Arbeit, ihre unbewußte Freude darüber, daß sie selbst keine Entscheidungen treffen, sondern einfach nur dem Geld hinterherjagen mußten. Er beneidete sie, weil sie ohne Zweifel über den Sinn des Lebens auskamen.
Während Chan in einer Garküche Tee aus einem uralten, abgenutzten Plastikbecher trank und dem Inhaber dabei zusah, wie er hektisch seinen Geschäften nachging, als bewahrten ihn nur Geschirrspülen, Reiskochen und Fleischschneiden vor dem sofortigen Untergang, fragte er sich, wie es wohl wäre, wenn er in einer Gesellschaft mit philosophischerer Ausrichtung lebte. Die Griechen, das hatte er gelesen, hatten den besten Teil des Tages den Gedanken über Geburt, Tod und Kosmos vorbehalten. Vielleicht wäre er dort besser aufgehoben gewesen.
Doch seine Gedanken waren sehr chinesisch. Er dachte an die beiden Taucher, die voller Haß auf ihn gestorben waren, an Higgins mit seinen monströsen Schwellungen und Hautablösungen, an Strahlenschäden und das Wort »Exfoliation«. Er dachte auch an den rätselhaften Cuthbert. Zu Hause durchwühlte er seine kleine Bibliothek in einem Schrank, der sich nur öffnen ließ, wenn er das Bett verschob. Die alten Bücher purzelten heraus wie Leichen, jedes davon stand für eine Laune oder eine Hoffnung, die er eine lange, schlaflose Nacht gehegt und am Morgen verworfen hatte.
Als Beamter der Hongkonger Polizei mußte Chan aus den Büchern, die er las, kein Geheimnis machen. Seinen Geschmack hätte ihm sowieso niemand abgekauft. Er gab das nur ungern zu, aber sein Vater hatte ihm seine eklektischen Vorlieben vererbt: die Gedichte von Rudyard Kipling, W. B. Yeats und E. E. Cummings; die Bücher von Lewis Carroll; die Robaijat von Omar Chaijam – allerdings nicht in geschriebener Form, denn der Ire hatte das siebzigstrophige Gedicht auswendig gekonnt. Was er Chan vererbt hatte, war die Neigung der
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