Die letzten Tage von Hongkong
Männlichkeit nicht. Vierzig Jahre Nachdenken über die condition humaine, du spinnst wohl? Ich hab’ vierzig Jahre lang nur an Frauen gedacht. Was meinst du wohl, warum ich im Rotlichtbezirk wohne?«
Chan sah, wie der alte Mann lachte. Er war frei, dieser alte Mann; ja, er war zornig, doch er war auch im reinen mit seinem Gott. War das der richtige Weg? Sollte man in einer umgekehrten Welt auf dem Kopf stehen und die Götter entscheiden lassen, wer recht hatte? Wollte Chan so enden?
Als sie an der Tür standen, legte der alte Mann einen Moment die Hand auf seinen Ellbogen.
»Beantworte mir eine Frage. Fünfzig Kilometer jenseits der Grenze verhungern kleine Mädchen in staatlichen Waisenhäusern. Warum machen wir uns keine Gedanken darüber?«
Als Chan ihn erstaunt ansah, hob der alte Mann die Hand. »Ich will nicht selbstgerecht sein, das ist eine ehrliche Frage. Die Bauern werfen kleine Mädchen in Brunnen, und der Staat rottet sie aus. Du weißt darüber Bescheid, ich weiß darüber Bescheid, Amerika und Europa wissen darüber Bescheid, es war sogar im CNN – warum machen wir uns keine Gedanken?«
Chan wälzte noch immer diese Gedanken, als der Commissioner of Police ihn am nächsten Tag höchstpersönlich anrief, um ihn zu einem Treffen am folgenden Morgen einzuladen.
SIEBENUNDZWANZIG
Als Chan in Cuthberts Suite an der Queensway Plaza geführt wurde, waren Commissioner Tsui, Caxton Smith, der Commissioner for Security, und Roland Brown, der Commissioner der ICAC, bereits da. Chan nahm am Ende des langen Tisches Platz, der fast den ganzen Vorraum zu Cuthberts Büro einnahm; nur der Politische Berater und sein englischer Sekretär durften das Büro selbst betreten. Cuthbert saß am Kopfende des Tisches, links von ihm Roland Brown und rechts von ihm Tsui und Caxton Smith.
Im Lauf der Jahre hatte Chan einen großen Teil der Signalsprache gelernt, die die Engländer in solchen Situationen verwendeten. Schon nach wenigen Sekunden wußte er, daß die Zusammenkunft informell war, daß er sich nicht mehr in Schwierigkeiten befand, daß die drei Männer, die ihn anstarrten, ihm sogar eine Hochachtung entgegenbrachten, die normalerweise Leuten ihres eigenen Ranges vorbehalten war. Mit anderen Worten: Sie benötigten seine Hilfe. Jetzt war es an der Zeit, daß jemand etwas sagte. Cuthbert hustete.
»Ich habe den Commissioner der ICAC gebeten, zu uns zu kommen, damit er das noch einmal anspricht, was wir alle schon wissen. Roland?«
Jetzt war es an Roland Brown zu husten. Chan beobachtete den Engländer dabei, wie er sich auf den schwierigen Akt der Kommunikation vorbereitete. Brown suchte in seinen Taschen herum und hustete wieder. Als Leiter der ICAC war seine Macht in der Kolonie größer als die des Leiters des FBI in Amerika, aber alle wußten um seine Schüchternheit. Endlich machte er den Mund auf. Chan verstand mit Mühe die Worte »Strahlung«, »Tod dreier guter Männer«, »Uran«, »Panikreaktion« und »eine Entschuldigung wäre angemessen«, bevor die leise Stimme im Scheppern eines Teewägelchens vor dem Büro unterging.
Ein Engländer dieses Rangs würde sich entschuldigen? Chan war beinahe ein wenig enttäuscht, als hätte er gerade zugesehen, wie eine berühmte Pazifikinsel, ein Orientierungspunkt für die Schiffahrt, langsam im Meer unterging und für immer verschwand.
»Tja, das wär’s dann also«, sagte Cuthbert strahlend.
Roland Brown erhob sich, nickte Chan einmal zu und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Dem Gesichtsausdruck der beiden noch verbliebenen Engländer und Tsuis nach zu urteilen, war Chan nicht nur rehabilitiert, sondern zu einem engen Freund dieser drei Mächtigen befördert worden. Chan sah die Chance, diesen Vorteil auszunutzen.
»Macht’s Ihnen was aus, wenn ich rauche?«
Die drei signalisierten Chan, daß es ihnen überhaupt nichts ausmachte. Er klopfte eine Benson aus der Schachtel, zündete sie sich an und inhalierte tief. Cuthbert legte ihm ein leeres Blatt Papier hin.
»Angesichts der Tatsache, daß Sie … ich meine … wie soll ich das ausdrücken … daß Sie nicht zu meinen Untergebenen gehören, sollte der Commissioner of Police erklären, was wir vorhaben.«
Es war deutlich zu sehen, daß Cuthbert Tsui nicht auf diesen Moment vorbereitet hatte, denn Tsui warf ihm einen wütenden Blick zu. Dann holte er ein Hustenbonbon aus der Schachtel auf dem Tisch vor sich und begann daran zu lutschen. Er dachte nach, bevor er etwas sagte.
»Wir wollen, daß Sie
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