Die letzten Tage von Hongkong
Buddhas Goldmünzen an. Beim gegenwärtigen Goldpreis von 385 US-Dollar pro Unze war der radioaktive Barren hinter dem Bleischirm in Vivian Ips Labor genau 38 500 US-Dollar wert oder wäre es zumindest, wenn man ihn entseuchte. Das war nicht gerade ein Vermögen, aber wer würde eine solche Summe einfach wegwerfen? Leute, für die sie keine Bedeutung hatte?
Je näher Chan dem Central District kam, desto mehr breiteten sich die Banken aus. Aus winzigen Räumen mit kleinen Wandkassen wurden riesige Paläste mit Schalterhallen so groß wie Bahnhöfe. Im Zentrum erhob sich die futuristische Hong Kong Bank, die mit den Rohren an der Außenseite aussah wie ein mit seinen eigenen Eingeweiden gefesselter Mensch. Dahinter ragte, höher als alle anderen Bauten, die Bank of China mit ihren scharfen, von dem chinesisch-amerikanischen Architekten I. M. Pei entworfenen Konturen auf. Menschen, die an jung shui glaubten, sagten, die scharfen Kanten seien wie ein chinesischer Dorn, der sich in das Herz von Hongkong presse.
Chan bog links in eine Unterführung zum Hafenviertel ein. Er warf ein paar Münzen in das Gerät neben dem Drehkreuz und gesellte sich zu der Gruppe von Menschen, die auf das nächste Boot der Star Ferry nach Kowloon wartete.
Er setzte sich vorne in den Bug des Bootes, die Insel mit ihrer Skyline im Rücken. Auf der Seite von Kowloon waren die Gebäude viel niedriger als auf der anderen, weil hier die Einflugschneise zum Flughafen lag. Eine Werbung für Seiko-Uhren wurde durch das Oberdeck eines Kreuzfahrtschiffs der Viking Line verdeckt, das zur Überholung hier angedockt hatte. Um seine Bordwände wimmelte es von Sampans; Frauen mit Goldlächeln und goldenen Rolexuhren arbeiteten wie Bergsteiger von leichten Plattformen aus, die an Seilen von den Decks hingen. Billiger und schneller konnte man ein großes Schiff nirgends auf Vordermann bringen lassen. Sogar die Queen Elizabeth II nutzte das aus, wenn sie in Hongkong anlegte.
Auf dem Festland nahm Chan die Rolltreppe nach Harbor City, wo er sich unter eine Gruppe älterer Amerikaner von dem Kreuzfahrtschiff mischte. Offenbar konnten es sich nur die Alten leisten, so viel Zeit und Geld für eine Kreuzfahrt rund um die Welt aufzubringen, die ein solches intellektuelles Vakuum mit sich brachte. Die Amerikaner trotteten geistesabwesend und mit gelangweilten Gesichtern durch die klimatisierten Einkaufszentren, die hauptsächlich für sie erbaut worden waren.
Im zweiten Stock von Ocean City erreichte Chan schließlich völlig verschwitzt den Standard Bookshop, einen der wenigen mit englischsprachiger Literatur gut bestückten Buchläden in Hongkong. Chan begab sich in die Abteilung mit den Reiseführern und machte sich auf die Suche nach den Autoren, deren Namen mit »P« begannen.
Die westlichen Touristen hatten eine Vorliebe für die Hochglanzbände über China, in denen sich Fotos der Chinesischen Mauer, der Verbotenen Stadt und der Terrakotta-Armee von Xi’an befanden. Die Wirtschaftsbücher waren fast alle von Prahlerei geprägt: Von ihren Umschlägen predigten Geschäftsleute mit weißen Krägen und dezenten Krawatten, wie man den Erfolg der Japaner imitieren, eine Rezession überstehen oder eine Milliarde Stück von fast jedem Produkt verkaufen könne. In der eigentlichen China-Abteilung ging es am lebhaftesten zu; fast jede Woche kam ein neues Buch über chinesische Geschichte, Wirtschaft oder Politik heraus. Alle wollten erfahren, was China als nächstes vorhatte, sogar die Chinesen selbst. Auch dort fand Chan den Marco Polo nicht. Eine Verkäuferin holte ihn aus der Klassikerabteilung.
Chan blätterte gern in einem Buch herum, bevor er es kaufte, und versuchte zu erraten, was für ein Mensch der Autor war, der die Dreistigkeit besaß, seine Gedanken drucken zu lassen. Im vorliegenden Fall mußte er zusätzlich noch raten, was für ein Mensch die junge Amerikanerin gewesen war, die sich ein solches Buch gekauft hatte. Sie war nicht die typische Straßengöre aus der Bronx, aber auch keine typische Karrierefrau. Seit Moira nicht mehr da war, machte er sich Gedanken über Clare und ihr Leben. Die Mafia als letzte Bastion männlicher Privilegien herauszufordern, war verrückt, wenn nicht gar selbstmörderisch. Konnte ein seit achthundert Jahren toter Italiener dabei helfen?
Mehrmals jährlich kommen Händler mit Perlen, Edelsteinen, Gold, Silber und anderen Wertgegenständen wie zum Beispiel gold- und silberdurchwirkten Stoffen an und überreichen alles
Weitere Kostenlose Bücher