Die letzten Tage von Hongkong
Flur hallte es. In der Theorie arbeiteten Sekretärinnen und andere Hilfskräfte jeden zweiten Samstag, doch alle schwindelten, so daß letztlich immer nur ein Drittel aller Angestellten auftauchte. Chan war überrascht, auf der Treppe Angie mit Jeans und T-Shirt zu treffen, die gerade mit einer großen Tasse Tee in ihr Studio unterwegs war. Sie wandte hastig den Blick ab, als sie ihn sah, doch dann überlegte sie es sich anders und schaute ihn mit übertriebenem Schmollen an. Chan trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte es mit einem Grinsen.
»Hallo.«
»Du Schwein.« Doch sie lächelte verschlagen, als sie das sagte.
»Ich hätte anrufen sollen. Sorry.«
Sie seufzte. »Ist schon in Ordnung. Ich kann das verstehen. Komm mal einen Augenblick mit; ich muß dir was zeigen.«
Er folgte ihr in ihr Studio. Sie deutete mit dem Kopf auf die Staffelei, an der sie ein Bündel Skizzen mit einem Clip befestigt hatte.
Angie nahm einen Schluck Tee. »Du hast recht gehabt mit deiner Vermutung.«
Der blonde Junge lächelte ihn von der Staffelei an. Es war eine hervorragende Zeichnung.
»Schau dir die anderen auch noch an.«
Chan hob die Blätter eins nach dem anderen hoch: blonder Junge im T-Shirt, blonder Junge im Bett, blonder Junge mit Erektion, blonder Junge in Pin-up-Pose.
»Sehr gut getroffen.«
Sie verzog verächtlich die Lippen. »Zumindest wissen die Australier, wofür wir unseren Körper haben.«
Chan wandte sich zur Tür. »Früher oder später wird’s der Rest der Welt auch noch begreifen.«
»Wichser.« Das Wort hallte von den Wänden, als er die Treppe hinunterhastete.
ZWEIUNDDREISSIG
Am Samstag nachmittag ging Chan oft an den Strand oder zum Pier, um den Menschen dabei zuzusehen, wie sie vom Land aufs Wasser überwechselten. Riesige Flächen der See verschwanden unter einer Decke aus Sampans, Dschunken, winzigen Katamaranen, über dreißig Meter langen Segelyachten, snake-heads, Doppelmotorkreuzern, Seeleuten, Schwimmern, Tauchern, Schnorchlern, kleinen Segelbooten und riesigen Luxusyachten. Eigentlich hätte Chan sich nicht quälen müssen, denn er hätte sich ein kleines Dinghi leisten oder wieder in seinen Tauchklub eintreten können. Seit seiner Scheidung neigte er dazu, sich selbst um Vergnügungen zu bringen; allerdings hätte er selbst diesen Schluß nie gezogen.
Die Emily beispielsweise war ein sechsunddreißig Meter langer Dreidecker, das größte Freizeitboot von ganz Hongkong, mit allen Schikanen zum Tauchen ausgerüstet. Chan hatte die Einladung ausgeschlagen, das Wochenende darauf zu verbringen. Als seine Schwester Jenny jedoch darauf bestand, hatte er den Besuch als so etwas wie eine gesellschaftliche Verpflichtung hingenommen, wie die Pflege eines Grabes oder das Schreiben chinesischer Neujahrskarten.
Er fuhr mit der U-Bahn von Mongkok nach Central und nahm von dort aus ein Taxi nach Aberdeen. Der Yachthafen war wie eine große Sichel mit Schwimmdocks aus Holz angelegt. Die größten Boote ankerten an einem Steg, der auf die berühmten drei schwimmenden Restaurants wies, wo alle Touristen einmal gegessen haben müssen. Sie waren mit goldenen, roten und grünen Löwen und Drachen verziert und geradewegs der westlichen Phantasie über das rätselhafte China entsprungen. Und sie brachten noch immer Geld. Die Emily, deren Heck in Richtung der beiden Restaurants deutete, nahm am Ende des Steges zwei Ankerplätze für sich ein.
Chan konnte sie schon vom anderen Ende des Yachthafens aus sehen. Die Oberflächen blitzten. In der Hitze waberte die Luft um das Schiff herum wie eine Fata Morgana. Die beiden Unterdecks waren vorne mit getöntem Glas verkleidet. Die Emily sah aus wie eine Milliardärin mit einer riesigen Designersonnenbrille.
Chan trug weiße Shorts, ein T-Shirt und Plastiksandalen und hatte in einem leichten Rucksack Tauchausrüstung, Wechselkleidung und ein Buch dabei.
Die Leute schwärmten über den ganzen Yachthafen aus, auf der Suche nach den Schiffen, auf die sie eingeladen waren, oder um noch die allerletzten Reparaturen an Segeln, Leinen oder Außenbootmotoren zu erledigen. Auf der Emily jedoch kümmerte sich eine eigene Crew um das Boot.
Nur Jenny war da, um Chan zu begrüßen. Er küßte sie auf beide Wangen, umarmte sie und betrachtete ihren Bauch, der so flach zu sein schien wie immer.
»Wann?«
»Ende Januar.«
»Mein Gott, du bist schön wie immer.«
Sie berührte seine Nase. »Flirte nicht mit deiner Schwester – das ist gegen das Gesetz.«
Chan
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