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Die letzten Worte des Wolfs

Die letzten Worte des Wolfs

Titel: Die letzten Worte des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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gefährlich, sind sie voller Energie. Durchtrennt man sie, setzt man diese Energie unkontrolliert frei. Vielleicht solltet ihr nicht alle in meiner Nähe stehen. Falls ich einen Fehler mache, erwischt es uns alle.«
    Â»Er hat recht«, sagte Rodraeg. »Kommt, wir gehen alle an Deck, frische Luft schnappen. Du rufst uns, wenn du etwas brauchst.«
    Â»Trinkwasser wäre nicht schlecht. Das kann hier Stunden dauern.«
    Â»Ich bringe dir was«, sagte Bestar. Bei seiner Schiffsdurchsuchung hatte er in der Kombüse ein Wasserfaß gefunden. Er suchte und füllte einen Becher und stellte ihn neben dem Magier ab. Dann folgte er den anderen an Deck.
    Sie unterrichteten die wartende Gezeitenfrau vom Stand der Dinge.
    Â»Es geht nicht schneller«, entschuldigte sich Rodraeg. »Ist das Locklied noch zu hören?«
    Â»Das Lied ist schon längst in den Wellen. Meilenweit und tagelang entfernt. Das Lied wird noch gehört werden können von Fischen, die jetzt noch nicht geboren sind.«
    Â»Was bringt es uns dann eigentlich, den Gefangenen zu befreien?« fragte Hellas.
    Â»Es kann die Wut der Wale mildern«, sagte die Gezeitenfrau. »Vielleicht kann er auch einen zweiten Gesang anstimmen. Vielleicht kann er auch, wie Bestar das vorschlug, mit einer Welle die Wale sanft aufs Meer hinausschieben, aber ich fürchte, dafür wird er zu erschöpft sein. Die Springflut, die mein Haus zerstörte, muß ihn viel Kraft gekostet haben.«
    Rodraeg blickte über sie und das Ruderboot hinaus. »Er liegt dort im Unrat, ohne Bewußtsein, gefesselt und gesichert von leuchtenden Schnüren. Wie konnten Ohter und Yrmenlaf ihn überhaupt jemals dazu bringen, in ihrem Sinne tätig zu werden?«
    Â»Ist das nicht ganz einfach?« fragte die Gezeitenfrau zurück, ohne ihn anzusehen. »Wenn man jemanden schlägt, ihn krümmt, ihn hungern läßt und dürsten, ihn in ein Loch sperrt, ihn bricht, ihn schwitzen läßt bei Hitze und frieren bei Frost, ihn rotten läßt in seinem Schmutz, und seinen Worten, seinen Schreien und seiner Sprache kein Gehör schenkt – was soll er einem da noch entgegenhalten? Wandry wird sich zu verantworten haben für das, was über Jahre auf diesem Schiff geschehen ist.«
    Rodraeg schwieg, dann riß er sich von der Reling los. »Kümmern wir uns um die Wachtposten, die du betäubt hast, Bestar.«
    Sie sammelten die drei betäubten Lebendigen und den kopflosen Toten ein. Der Leichnam wurde von Bestar in der Mittschiffshütte in einer Tuchtruhe verstaut, die drei Schlafenden wurden von Hellas und Rodraeg mit Stricken sorgfältig gefesselt und unter Deck zu den anderen drei getragen. Diese wurden ebenfalls verschnürt und dann in sechs Hängematten des winzigen Mannschaftsquartiers gelegt. Zwischendrin brachte Bestar Eljazokad neues Wasser.
    Als sie fertig waren, war der Magier gerade mit den gelben Schnüren zugange. Rodraeg ging wieder an Deck, weil der Gestank der Zelle seiner Atmung zu schaffen machte, Bestar und Hellas lagerten sich vor der eingetretenen Tür und schauten Eljazokad beim Basteln zu.
    Eine weitere halbe Stunde später löste er den letzten Faden. Der Magier war schweißüberströmt. Bestar gab Rodraeg Bescheid.
    Rodraeg stand am Heck der Aglaeca und starrte aufs dunkle Meer hinaus. Es war jetzt weit nach Mitternacht. Die ersten Stunden am vierten Tag des Sonnenmondes. Am vierten oder fünften Tag, so hatte der Kreis es ihnen geschrieben, sollten die Wale Wandry erreichen. Die Angaben der Seemagier – nein, das war falsch: Riban Leribins eigene Angaben – waren präzise gewesen, wenngleich eher knapp berechnet als mit üppigem Zeitpolster. Das mußte man sich merken. Den engsten Zeitpunkt voraussetzen, niemals den weitesten.
    Rodraeg atmete noch einmal frische Seeluft ein und ging dann unter Deck. Eljazokad hatte auf ihn gewartet. Zu zweit traten sie nun, die Laterne in der Hand, an den Gefangenen heran.
    Was sie sahen, erschütterte sie. Der Mann war offensichtlich mißhandelt worden, unbekleidet und unterernährt. Er war von völlig schwarzer Hautfarbe und dem kleinen Körperbau eines Kindes, war aber seinem Gesicht nach zu urteilen gewiß schon über vierzig Jahre alt. Ein Zwergwüchsiger. Dem Aussehen zufolge stammte er aus einem der beiden Regenwälder. Seine Arme waren mit einer rostigen Kette an die Wand geschlagen. Seine Augen waren

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