Die letzten Worte des Wolfs
Ãffnung quoll ihnen ein ekelerregender Gestank entgegen. Menschliche Körperausscheidungen, aber auch verdorbenes Pökelfleisch, verrotteter Fisch, schimmliges Holz und ein beiÃender, fremder Geruch, den keiner von ihnen zuordnen konnte. AuÃerdem ein leises Summen und ein eigenartig vielschichtiges Leuchten.
Rodraeg bückte sich und lugte hinein. Er sah ein Gespinst bunter, leuchtender Fäden, die kreuz und quer im Raum gespannt waren. Dahinter â möglicherweise â eine zusammengekauerte Gestalt. Das Summen ging von den Fäden aus. Der Gestank kam von den Pützeimern, die um die Gestalt herumstanden.
»Könnt Ihr mich verstehen?« fragte Rodraeg die Gestalt, die jedoch weder antwortete noch sich rührte. »Wir sind hier, um Euch zu befreien.« Immer noch keine Reaktion. Nach dem, was Rodraeg in dem zerstreut bunten Licht erkennen konnte, war der Gefangene bewuÃtlos oder betäubt oder dem Tode sehr nahe.
»Was ist das?« fragte Bestar, der staunend die bunten Fäden betrachtete. Einige waren grün, andere rot, blau, gelb oder weiÃ, und sie durchzogen die vordere Hälfte der nur etwa zwei Schritt durchmessenden Kajüte mit einem vollkommen unregelmäÃigen Netz.
»Keine Ahnung«, hauchte Rodraeg. »Besser nicht berühren. Hellas, geh Eljazokad holen. Und bring uns eine brennende Laterne mit.«
Der junge Magier nutzte die kurze Zeit, die er mit der Gezeitenfrau allein im Ruderboot war.
»Weshalb seid Ihr Euch so sicher, daà ich der Sohn von diesem Zarvuer bin?«
»Aha!« horchte sie auf. »Da hat einer doch nicht ganz so fest geschlafen, wie er nach auÃen den Anschein erweckte! Ganz einfach, mein Junge: Du siehst ihm sehr ähnlich. Ich kannte ihn in deinem Alter. Und du hast dieselbe magische Energie wie er. Sichtbares, doch unantastbares Wirken nannte er es, glaube ich.«
»Und? Lebt er noch?«
»Was würdest du tun, wenn ich dir dies verriete?«
»Ich weià nicht. Ich weià nicht, ob ich überhaupt etwas tun würde. Ich habe ihn nie kennengelernt, also verspüre ich auch keine Sehnsucht nach ihm. Meine Mutter war mir eine gute Mutter. Mein Vater existierte nicht. MüÃte ich jetzt losziehen und ihn suchen, wie man das vielleicht von einem guten Sohn erwarten würde? Ich glaube nicht. Wozu denn auch? Ich habe gelernt, ohne Vater zu leben.«
»Eine interessante Antwort. Ich kann dir nur sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob er noch lebt. Lange, sehr lange habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber das wäre auch schwer, weil er seine Magie abgegeben hat.«
»Abgegeben?«
»Von sich geworfen wie einen Fluch.« Die Gezeitenfrau kicherte. »Er war ein hübscher Kerl, genau wie du. Immer in Gedanken. Stets von Ernst erfüllt. Er war der erste, der darauf hinwies, daà die sterblichen Zehn ein Irrweg waren. Wie Affen, die Schmetterlinge nachahmten. Einige miÃverstanden ihn. Was er meinte, war, daà die Menschen die Verbindung zu den Göttern kappen sollten, um endlich durch und durch menschlich zu werden. Doch wir entwickelten statt dessen den Plan, einen einzelnen Magier herauszubilden, der dem Einen nahekommen sollte. Ein göttlicher Held, so wie Rinwe einer war. Einer, der ein religiöser und weltlicher Führer werden könnte. Zarvuer verlieà uns voller Wut und gründete seine eigene Gegenbewegung. Wir vertaten zehn Jahre mit der Schaffung des Einen, dann gaben wir nach und lösten uns auf, die Sieben oder Sechs, die wir zu der Zeit noch waren. Zehn Jahre später wurde tatsächlich einer geboren, der der Eine hätte werden können, und wir hatten gar nichts damit zu tun. Delikate Ironie der Zeiten.«
»Hatte mein Vater etwas damit zu tun?«
»Nein. Wie sollte er? Er hätte diesen Einen gehaÃt und verdammt, hätte er von ihm erfahren. Nein, die Geburt des Galin von Asteria war ein Zufall. Ein Unfall. Ein Glücksfall. Ein Unglücksfall. Ein uneindeutiger Scherz der Götter. Ein Mensch mit zu viel Macht für einen Menschen. Sein Verstand zerbrach in zehntausend Scherben, als er noch in den Windeln lag.«
»Den Namen habe ich schon mal gehört: Galin von Asteria.«
»O ja, es gibt ihn noch. Er müÃte jetzt Mitte zwanzig sein. Wenn er den Mund auftut, öffnen sich Knospen zu Blüten. Wenn sein Schatten auf Ameisen fällt, wachsen ihnen Flügel und sie fliegen zur Sonne. Er hat sich von
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