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Die letzten Worte des Wolfs

Die letzten Worte des Wolfs

Titel: Die letzten Worte des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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bekommen als einen rußverschmierten Klippenwälder. Mit etwas Glück würden sie ihn vielleicht für einen riesenhaften Verwandten des Gefangenen halten.
    Â»Da kommen sie!« rief Bestar schließlich und deutete aufgeregt nach vorne.
    Der spiegelnden, flimmernden See waren Warzen gewachsen. Eine Herde näherte sich, nur ihre Rücken waren sichtbar. Vereinzelt gischteten Wasserfontänen in die Höhe. Die Front dieser Annäherung war so breit, so unausweichlich, daß alle Männer im Boot mit einer ganz unwillkürlichen Furcht konfrontiert wurden.
    Â»Einhundertzweiundsechzig Tiere«, lachte die Gezeitenfrau. »Schaut euch das an! Schaut euch das an!«
    Rodraeg kniete sich neben ihr vorne in den Bug. »Die Encyclica führt sie als ausgestorben. Sind das wirklich Buckelwale?«
    Â»Buckelwale, unverkennbar. Siehst du die Warzen und Wülste an ihren Köpfen? Daher haben sie ihren Namen. Sie sind uralt. Die Götter selbst tauchten ihre Finger, die vom Erschaffen des Landes heiß geworden waren, ins kühlende Meer, und aus den Tropfen, die beim Herausziehen zurückfielen, entstanden die Walfische.«
    Â»Einhundertzweiundsechzig!« wiederholte Bestar und stieß einen Jubelruf aus. »Das muß ich dem alten Selt erzählen! Daß Migal das nicht sehen kann, verfluchte Schande! Woaaaah, der Große da hinten! Die Flosse ist breiter als ich hoch bin! Und da sind auch Kinderchen! Seht mal, da, zwischen den Dicken!«
    Die Wale kamen ganz langsam heran und umgaben schon bald das Ruderboot. Die Gezeitenfrau redete beruhigend auf sie ein, beugte sich aus dem Boot und tätschelte sogar einen von ihnen, einen Riesen mit runzligen Augen, dessen helle Seitenstreifen schon gelb waren vom Alter. Bestar war der erste, der sich traute, es ihr nachzutun. Mit der flachen Hand berührte er einen Wal. Eljazokad war der nächste.
    Rodraeg konnte nicht. Er hatte Tränen in den Augen und wußte gar nicht genau, seit wann. Bestars aufgeregtes Geplapper, die ruhigen Worte der Gezeitenfrau, die massigen dunklen Leiber, die sich so schwerelos im Wasser bewegten – all das wirkte zusammen zu einem perfekten Augenblick. Alles, was ihn bedrückte und beschwerte, trat einen Schritt zurück und ließ diesen Augenblick in der Morgensonne glänzen. Wandry war nicht zerstört worden, lediglich ein einziges Haus. Die Wale würden überleben, alle von ihnen. Die Qual des gefangenen Regenwaldmenschen war vorüber. Der Husten und die Schwarzwachsvergiftung würden Rodraeg umbringen, aber jeder mußte früher oder später sterben. Jetzt, durch diesen Augenblick, hatte er mehr gelebt als in seinen siebenunddreißig Lebensjahren zuvor. Das hatte er Naenn zu verdanken. Die zu ihm gekommen war. Zu ihm.
    Steuerbords hob ein Wal langsam die Schwanzfluke aus dem Wasser und ließ sie dann zurück ins Meer klatschen. Andere taten es ihm gleich. Salzwasser spritzte empor, die Bootsinsassen wurden gründlich durchnäßt und lachten darüber. Die Gezeitenfrau sprang plötzlich aus dem Boot auf den Rücken des alten Wals, auf den sie die ganze Zeit über eingeredet hatte. Langsam kam in das verspielt wirkende Gleiten und Rollen der Walleiber eine neue Ausrichtung. Der Leitwal wendete. Die Herde wendete mit ihm.
    Â»Du mußt sie auch mal anfassen, Rodraeg!« rief Bestar begeistert. »Das fühlt sich großartig an. Fest, aber nicht hart, irgendwie nachgiebig. Man kann das gar nicht beschreiben. Schnell, so lange sie noch so nahe sind!«
    Rodraeg lehnte sich schließlich hinaus und strich mit den Fingern an einem vorübergleitenden Riesen entlang. Das dunkle Auge des Wales schaute ihn genau an, Rodraeg schaute gebannt zurück. Ein Zauber zog an ihm vorüber, etwas von so großer Macht und Selbstsicherheit, daß es keine Furcht kannte und keine Aggression. Um so zu werden, müßte man Hunderte von Jahren leben, dachte Rodraeg.
    Hellas saß ziemlich unbeeindruckt im Heck und behielt weiterhin die Wandryer Küste im Auge. »Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft«, sagte er schließlich. Ein einmastiges Fischersegelboot löste sich vom Hafenhintergrund und schob sich langsam nach vorne.
    Â»Ihr müßt nun leider noch einmal kämpfen«, kündigte die Gezeitenfrau, die auf dem Walrücken hockte wie eine Kröte auf einem Stein, ihnen an. »Mit diesem Schiff sind sie schnell genug, um mit der Herde

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