Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
Sie könnte sich auch zu Crystal und den anderen Frauen gesellen, doch diese Aussicht deprimierte sie fast noch mehr. Es war schon schlimm genug gewesen, als sie am späten Nachmittag auf den Dorfplatz gekommen war. Crystal hatte so selbstverständlich ihren Platz unter den Frauen des Dorfes eingenommen, als hätte sie immer schon hierher gehört. Dawn fand das nicht so einfach. Sie konnte mit diesen Frauen nicht einfach darüber reden, wie man Wild am besten einmarinierte oder ob man die Tische besser an dem einen Ende des Platzes oder dem anderen aufstellen sollte, wenn sie sich in ganz grundlegenden Dingen so verloren vorkam. Wer hatte hier im Dorf das Sagen? Was hatte es mit den Haaren auf sich? Gingen auch Frauen jagen? Crystal schien sich solche Fragen auch zu stellen, doch das hinderte sie augenscheinlich nicht daran, Freundschaften zu schließen. Sie selbst fühlte sich irgendwie befangener im Umgang mit den Bewohnern der Auen. Ihr Leben lang war Dawn von Ort zu Ort gezogen, hatte Fremde kennen gelernt und sie war nie schüchtern gewesen, doch sie hatte auch immer das Gefühl gehabt, dass sie die Leute in den Mittellanden kannte und verstand. Die Menschen hier waren ihr fremd. Außerdem war sonst immer Corus an ihrer Seite, mit dem sie sich über die Leute lustig machen konnte und der ihr Rückendeckung gab – ohne ihn kam sie sich verloren vor unter all den Fremden. Die Geräusche des Festes schienen ihr wie Hohn, um sie daran zu erinnern, dass niemand da war, der mit ihr lachte. Einsamkeit senkte sich wie eine schwere Decke über Dawn, dämpfte alle Geräusche, schloss alle Menschen aus und ließ sie in Finsternis zurück. Es war nicht gerecht, dass ihr Freund nun mit einem Mädchen tanzte und sie alleine hier sitzen ließ! Doch Corus dachte ja gar nicht daran, wieder zu ihr zurückzukommen. Nachdem das Lied zu Ende war, tanzten sie noch einmal miteinander und dann noch einmal. Als sie endlich damit aufhörten, wartete Dawn ungeduldig darauf, dass sie zu ihr zurückkehren würden, doch die Beiden gingen in die andere Richtung, dorthin, wo ein paar Frauen Beerensaft ausschenkten. Dawn beobachtete wie Corus Rose einen Becher reichte und sich mit ihr unterhielt. Plötzlich wallte Eifersucht in ihr hoch. Sie wurde taub und blind für alles um sich herum, hörte nur mehr das Rauschen ihres Blutes und sah nur mehr, wie sich Corus vertraulich zu Rose hinabbeugte. Irgendwo tief in sich hörte sie ein Lied, das sie schon einmal gehört hatte, das Lied des Schwertes: Blut, Blut, Blut…
Gleich darauf war der Moment auch schon wieder vorbei. Dawn atmete tief durch und öffnete ihre Hände, die sie unwillkürlich zu Fäusten geballt hatte. Sie konnte wieder klar denken, doch sie spürte immer noch einen brodelnden Zorn auf dieses fremde Mädchen. Rose hatte ihren Beutel einfach liegen lassen, als sie mit Corus verschwunden war und als sie ihn nun entdeckte, bewegten sich ihre Finger beinahe wie von selbst. Unauffällig zog sie den kleinen Stoffbeutel näher zu sich heran. Sie ließ ihren Blick über die Menge streifen und öffnete die kleine Tasche mit einer Hand. Dawn wagte es nicht, den Inhalt genau zu untersuchen. Wenn jemand den Beutel als den von Rose erkennen würde, oder noch schlimmer, wenn Rose in genau diesem Moment zurückkam, würde das zu unangenehmen Fragen führen. Also beschränkte sie sich darauf den Inhalt mit tastenden Fingern zu untersuchen. Dawn fühlte einen Becher, Federn, ein Fläschchen – vielleicht ein Duftwasser, vermutete sie – und schließlich eine kleine Figur. Dawn untersuchte sie näher. Erst konnte sie nicht ausmachen, was sie darstellen sollte, doch dann war sie sich ziemlich sicher, dass es eine Blume war: Blüten, Stiel, Blätter. Dawn vermutete, dass sie aus Holz gefertigt worden war, vermutlich sogar ziemlich kunstvoll, zumindest konnte sie fein gearbeitete Linien ertasten und am Stiel fühlte sie sogar Dornen. Eine Rose! Ja, das war passend. Dawn lächelte und zum ersten Mal an diesem Abend fühlte sie sich wirklich gut. Mit einem leisen Knacken zerbrach sie die Figur. Sorgfältig verschloss sie den Beutel wieder. Corus und Rose hatten sich inzwischen wieder unter die Tanzenden gemischt und als sie ihren Freund beobachtete, verflog der kurze Moment des Triumphes und die Einsamkeit kehrte zurück. Ruckartig stand sie auf. Sie wollte nicht noch länger unter all diesen Fremden bleiben, die es nicht kümmerte, dass sie ihre Eltern vermisste und manchmal sogar Madame Fate, die
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