Die Lichtermagd
Luzindes selbst gewählte Einsamkeit. Sie zögerte ihren Dienst so lange wie möglich hinaus, um möglichst wenig Zeit mit den Juden verbringen zu müssen. Doch noch am ersten Abend, die Kinder spielten begeistert in der Hütte, rief der alte Gottschalk nach einem heißen Bier. Luzinde mühte sich mit schmerzendem Bein die Treppe hoch.
Der alte Mann saß in seiner Schreibkammer an einem Pult und las beim Licht einer Kerzenlaterne ein Buch. Die Schriftzeichen darin erinnerten Luzinde an winzige, aneinandergeheftete Fähnchen. In Regalen stand Ledereinband an Ledereinband nebeneinander. Auf die Buchrücken hatte man verschiedenste Symbole geprägt und gemalt, die Luzinde teils vertraut waren – Blätter und Pflanzen waren da abgebildet, Hämmer und Zirkel -, teils aber völlig unbekannt. Der Geruch nach muffigem Leder und Pergament erinnerte das Mädchen an die Schreibstube ihres Vaters. Doch die bis unter die Decke gestapelten Bücher ragten so schwergewichtig über ihr auf, dass sie fürchtete, unter ihnen begraben werden zu können. Davor standen drei kostbar beschlagene große Truhen mit Deckeln, die so spitz nach oben liefen wie Dachfirste. Eine davon war offen und mit einer Vielzahl an Einbänden und Pergamentrollen gefüllt. Wenn sie das überschlug, besaß der Alte beinahe so viele Werke wie die Meisterin Elisabeth!
Einen Augenblick lang stand Luzinde unschlüssig im Raum, denn Gottschalk beachtete sie nicht. Sie wusste nicht, ob es ihm angenehm war, dass sie in den Wohnbereich der Herrschaft trat, aber all diese Dinge würde sie nur herausfinden,
wenn sie sie ausprobierte. Als sie den schlanken Krug mit seinem dampfenden Inhalt auf das gerade Sims des Lesepultes stellen wollte, da schnellte die Hand des Alten hoch. »Nit!«
Luzinde hielt erschrocken in der Bewegung inne. Als Gottschalk auf das Fenstersims wies, stellte sie den Bierkrug dort hinüber, neben eine große Sanduhr. Der Alte, dessen Blicke am Text festgesaugt schienen, las noch einen kurzen Moment. Dann löste er sich von der Lektüre, und sein Blick glitt erst zum Krug, dann zu ihr. »Hab Dank.«
Luzinde verbeugte sich leicht – der Umgang mit den Juden war ihr fremd. Immerhin war er jetzt ihr Herr.Welche Ehrenbezeugungen brachte man ihnen, den Gottesmördern, nur entgegen? Wie viel war zu viel, wie viel zu wenig? Sollte sie mit ihnen sprechen, oder besser nur das, was nottat? Endlich gewann ihre Neugier die Oberhand. »Du bist nicht unten in der Hütte. Deine Kindeskinder scheinen sich daran sehr zu erfreuen.«
»Tun se, nit? Sukkot , das Lauberfest, is der Kinder liebstes Fest. Sie freien sich Wochen darauf, dass die Sukka schtet. Und dann kumen se schwerlich wider raus. Aber meine alten Beine leiden unter der Kaltkeit.«
»Die Hütte steht also nicht immer dort im Hof?«, fragte Luzinde. »Ich dachte, sie wäre schon älter, weil sie bereits kaputt ist.«
»Nein, se schtet nit immer da«, meinte der Alte. »Wir bauen se jed’s Jar wider.«
»Kaputt?«
»Kaputt.«
Luzinde runzelte die Stirn. »Aber warum denn nur?«
Da musste Gottschalk lächeln. »Ja, was macht des für einen Sinn, eine kaputte Hitt zu bauen? Frag des de Kinder. De kennen dir zeigen, dass se ihre Tora gut gelernt haben.«
Luzinde wusste nicht, was eineTora war, noch dieses Sukkot. Sie wollte es auch gar nicht wissen, denn anscheinend war die Hütte, die sie für eine kleine Laube gehalten hatte, Bestandteil ihrer ketzerischen Religion. Da sie aber auch nichts Schlechtes darüber sagen wollte, schwieg sie.
»Habt’er Krischten denn kein Fest, an dem er der Wurzeln gedenkt und dem Herrn dankt, dass er trotz aller Not, trotz aller Schtrof für eure Feler, imer noch hier seid?«
Luzinde schluckte. Sie schüttelte schnell den Kopf. »Wir danken für die Ernte. Und für das Opfer des Herrn Jesus Christus. Und wir danken Gott dafür, dass er unsere Sünden von uns nimmt. Aber für die Strafen? Nein, für die danken wir ihm nicht.« Sie fand es auch schon recht merkwürdig, sich dafür zu bedanken, dass man es nicht leicht hatte, fand sie, aber das behielt sie für sich. Er war ein Jude, aber er war ihr Herr. Er konnte sie einfach wieder aus seinem Haus werfen, und dann säße sie wieder auf der Straße. Das durfte nicht passieren, bevor sie nicht eine andere Stelle hatte.
»Luzinde«, sprach der Alte unvermittelt, »ich glaub, de bist ein guts Meidel. Aber … etwas verfolgt dich doch, nit? Ich muss des nit aless wissen. Aber ich brauch ein bissel Erlichkeit von den
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