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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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Burr.
    »Wieso habt ihr mir nichts davon geschrieben?«
    »Wir wollten dich nicht beunruhigen«, antwortete die Mutter.
    George Lincoln konnte nur mit Mühe sein Erschrecken unterdrücken, als er William kurz umarmte, dessen ausgemergelten Körper spürte und sein bleiches Gesicht sah.
    Der Bruder lächelte gequält. »Sie haben mir einen weiteren Teil der Lunge entfernt!«, sagte er dann und es klang beinahe schuldbewusst.
    Burr wagte nicht zu fragen, womit sie die Operation bezahlt hatten.
    Zum Mittagessen kam ein dünner Kartoffeleintopf auf den Tisch, in dem ein paar Kohlblätter schwammen und klein geschnipselte Karotten für ein wenig Farbe sorgten. Das Brot dazu war bestimmt schon einige Tage alt.
    »Mehr haben wir leider nicht!« Die Stimme seiner Mutter war bedrückt, als ob sie sich schämte.
    In George Lincoln stieg ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit auf. Was wäre er ohne ihre Fürsorge, ihre Liebe, ihre Wärme?
    Nun war es an ihm, ihnen wenigstens einen winzigen Bruchteil von dem zurückzugeben, was sie für ihn getan hatten. Er rechnete nach, wie viel Geld er bis Ithaca und für die ersten Tage in Cornell brauchen würde. Na ja, viel blieb nicht übrig, aber immerhin mehr, als sie hatten. Bevor er sich verabschiedete, ging er in die Küche und schob ein paar Scheine und Münzen in die Schürzentasche.

    In Ithaca war das Erste, bei Pee vorbeizuschauen. Im letzten Brief hatte er ihr seine ungefähre Rückkehr angekündigt und war nun ein wenig enttäuscht, sie nicht anzutreffen. Sie sei bei einer Freundin, beschied ihn die Vermieterin, vor einer Stunde gegangen. Burr holte seinen Waterman-Füller aus der Tasche, suchte nach einem Papier und schrieb ein paar Zeilen.
    »Würden Sie ihr das bitte geben?«
    Es war ein strahlender Sonntag, in der Luft lag schon der Geruch des Herbstes, die Laubbäume wechselten ihre Farbe zu Rot, Ocker, Hell- und Dunkelbraun, dazwischen leuchtete das Gold der Ahorne. Spinnfäden schwebten schaukelnd im hellen Licht, glitzerten wie hauchdünne Lamettafäden, wurden verweht und legten sich weich über Gesicht und Hände.
    George Lincoln war trotz der Pracht um ihn herum bedrückt, seine Seele war schwer. Schon von weitem sah er ihre schlanke, anmutige Gestalt, über ihre Augen fiel der Schatten eines breitrandigen Hutes. Pee! Behände sprang sie von der Mauer, kam ihm leichtfüßig entgegen, während er das Gefühl hatte, dass seine Beine sich mit Blei füllten. Nun standen sie sich gegenüber, unsicher und unbeholfen, suchten nach Worten und fanden sie nicht. Ihre Blicke tasteten sich ab, versuchten in den Augen des anderen zu lesen. Als das Schweigen beinahe unerträglich wurde, streckte George Lincoln zögernd seine Hand aus, die sie ebenso zögernd ergriff, zog Pee zu sich her und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Schön, dich zu sehen, Pee!«
    »Das war aber keine besonders stürmische Begrüßung nach so langer Zeit!«, meinte sie, schob ihn ein wenig zurück, warf den Kopf in den Nacken und lachte.
    Vor ihm stand nicht mehr das junge Mädchen, sondern eine selbstbewusste, modisch gekleidete junge Frau. Herrgott, dachte er, ist sie hübsch! Gleichzeitig wusste er, dass die kommenden Stunden einen eisernen Willen und ein hartes Herz erfordern würden.
    Wieder stand das Schweigen wie eine gläserne Wand zwischen ihnen.
    »Wollen wir hier Wurzeln schlagen?«, fragte Pee mit gespieltem Übermut.
    »Ich habe mir gedacht, wir könnten ein wenig spazieren gehen. Wir haben uns viel zu erzählen. Der Tag gehört uns –
    vorausgesetzt natürlich, du hast nicht noch etwas anderes vor!«
    »Selbstverständlich nicht. Wohin gehen wir?«
    »Einfach drauflos. Was hältst du davon? Zu essen habe ich dabei!« Er deutete mit dem Daumen nach hinten auf seinen Rucksack.
    »Mein George! Du hast dich nicht verändert!«, lächelte sie.
    »Mit dem Ding bin ich schon durch halb Europa gezogen!«, grinste er zurück.
    Endlos wellten sich die Enfield-Hügel vor ihnen, Pee erzählte von ihrer Arbeit als Zeichnerin in einer kartografischen Anstalt, von ihren Vorgesetzten, den Späßen unter den Kollegen, dass ihre Eltern wohlauf seien und ihr Bruder vor zwei Monaten geheiratet habe.
    »Jetzt bist du dran!«, meinte sie nach einer Weile. »Komm, erzähl, wie war es in Europa? Viele Frauen?«
    Burr lachte auf. So eine Frage hätte sie früher nie gestellt, auch nicht im Scherz. »Wie überall. Aber nicht für mich!« Er schilderte ihr, wie er seine Aktentasche verloren und die Umstände, unter

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