Die Lichtfaenger
immer weiter in mir leben und ich werde mein Leben edleren Zwecken widmen, von denen ich ohne sie nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Alles Gute, alle hohen Dinge, für die die Menschheit geträumt und gelebt hat, werden erst wahr mit Gott in uns. Und wenn er dort nicht ist – wo soll man ihn denn suchen? Religion kann wachsen, sich verändern. Aber sie kann nie, niemals sterben!«
Edna Moffet war daraufhin ziemlich verwirrt. Besonders seine Ausführungen über den Gott in uns brachten sie
durcheinander, was sie auch nicht verhehlte.
Burr antwortete: »Ich meine, falls dies eine verständliche Welt ist und nicht eine des Zufalls – es gibt keinen Mittelweg zwischen diesen beiden Möglichkeiten –, dann muss es eine Seele der Dinge geben, ihre Quelle, ihre Substanz und ihr Ende. Eine Antwort auf die süßesten, höchsten und vornehmsten Dinge, die wir sind und von denen wir wissen. Ist die Liebe einer Mutter Zufall? Oder ist sie beabsichtigt und daher verständlich? Wenn in uns Menschen so etwas wie eine Vorstellung von Freiheit, Verantwortung, Persönlichkeit und Charakter bestehen kann, wenn wir uns entschließen können, für andere zu ackern, opfern und zu schwitzen, dann gibt es im Herzen des Universums, aus dem wir geboren sind, einen Plan, einen Geist, ein Herz, so frei, so hoch, so voller Liebe, dass Unzufriedenheit Narretei ist und Besorgnis Misstrauen. Mögen unsere Philosophien und Religionen nur das Geplapper eines Kindes sein, das an der Brust der Mutter träumt; aber solange die Brust der Mutter da ist, tun wir gut daran, zu träumen und zu plappern. Was Gott auch immer sein mag, für unser kleines Begreifen kann er nicht süßer, höher, treuer und wahrhaftiger sein, als es das Beste in mir, in uns ist. Ich denke, die Vervollkommnung ist der höhere Sinn, das Ziel, das uns bei der Geburt auferlegt wurde. In einer Welt, in der Menschen wie Mattie leben können und ich die Heiligkeit der Liebe durch sie kennen lernen durfte, wie könnte ich an der Personalität der Liebe, nein, an der Menschlichkeit Gottes zweifeln? Es ist schwer, ihren frühen Tod mit Liebe zu verstehen. Aber ist es nicht ungleich schwerer, ohne Liebe überhaupt ihr Sein zu verstehen?«
Burr tat, wozu ihm Edna geraten hatte: Er stürzte sich in die Arbeit. Zwar hatte er sich immer schon darin vergraben, aber nun wurde es geradezu obsessiv. Über seinen Historiker-Kollegen Edward James war er auf einen Hexenprozess gegen eine Grace Sherwood aufmerksam geworden, um den sich in Virginia noch heute wilde Legenden rankten. Bei ihr war offenbar zum ersten Mal auf amerikanischem Boden die Wasserprobe angewandt worden, wobei die Daumen und die großen Zehen der Angeklagten über Kreuz
zusammengebunden wurden. Grace Sherwood schien eine ungewöhnliche Frau gewesen zu sein – angeblich bildhübsch und sie hatte keine Röcke getragen, sondern war in Hosen herumgelaufen. Nach dem Tod ihres Mannes James hatte sie die Plantage mit ihren drei Söhnen bewirtschaftet. Die halbe englische Kolonie war am 10. Juli 1706 zusammengeströmt, um das Schauspiel zu erleben, wie die wegen Schadensund Voodoozauber angeklagte Hexe in das Wasser des Lynnhaven geworfen wurde. »Die Schuhe habt ihr euch halb
durchgelaufen, ihr weißer Abschaum, nur um zu sehen, wie sie mich ersäufen. Aber ich prophezeie euch: Auch ihr kommt nicht trocken nach Hause!«, soll sie den Gaffern höhnisch zugerufen haben. War der Himmel soeben noch blau und klar gewesen, so verfärbte er sich im Augenblick ihres Eintauchens in ein tiefes Schwarz, dann öffneten sich die Schleusen, Blitze zuckten wie feurige Speere aus den Wolken. So erzählte man es sich jedenfalls in Virginia. Grace Sherwood gelang es, ihre Fesseln abzustreifen und sich freizuschwimmen. Wäre sie ertrunken, hätte das ihre Unschuld bewiesen. So aber wurde sie als überführte Hexe zu acht Jahren Haft verurteilt.
Ein Teil der Dokumente war 1865 beim Brand des
Gerichtsgebäudes in Williamsburg vernichtet worden, was die Rekonstruktion der damaligen Vorgänge zu einem
Geduldsspiel machte. Aber auch mit den Salemer Fällen war George Lincoln noch längst nicht fertig. Hinzu kam eine Reihe neuen Materials aus Europa, das gesichtet, gelesen und katalogisiert werden wollte.
»Der Hexenglaube ist ein Schatten auf der Uhr der Zeit, deren Zeiger sich vorwärts bewegen hin zur Sonne der Zivilisation!«, meinte Burr einmal eines Abends zu Morse Stephens.
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In der Koningstraat herrschte dicke Luft. Tringen war
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