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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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unbekannt) aus verständlichen Gründen keine Namen und Orte benennt, schildert dieser Landpastor einundzwanzig Fälle, nennt Ross und Reiter. Die Prozesse hat er zum Teil selbst erlebt, unter anderem mit dem Kommissar Doktor Schultheiß, dessen Wirken dir nicht ganz unbekannt ist. Es ist ein einmaliges Dokument, wie ich es noch nie gesehen habe.
    Die beiden Professoren sind derselben Meinung. Es wirft ein grelles Licht auf diese Prozesse, da es die andere Seite, nämlich die Geschundenen und Opfer, in ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung zu Wort kommen lässt. Wie gesagt: Geh bitte vorsichtig damit um.
    Grüße deine Frau und seid Gottes Schutz befohlen, dein Freund Johannes Freylink Post scriptum: Tanner lasse ich dir noch zukommen. Ich schicke es an Richard.«

    35

    Es war wirklich ein Puppenhaus-Haushalt. Bewusst wurde ihnen das jedes Mal, wenn sie Freunde zu Besuch hatten. Bei mehr als vier Personen wurde es im Wohnzimmer eng. Um Platz zu schaffen, stellte Sandy dann die kleinen Seitentische in den Flur, benutzte sie als Ablage für Gebäck, Salate, Geschirr und Getränke. Kaffee gab es in George Lincolns Studierzimmer. Aber jede Medaille hat zwei Seiten, wie Sandy bemerkte: Die Wege waren kurz. Kopfzerbrechen machte ihr die Unterbringung des Kindes. Zu Anfang würde das noch kein Problem sein, aber was, wenn es heranwuchs? George Lincoln sah das gelassen, meinte, bisher habe sich für alles eine Lösung ergeben. Ein anderes Problem wurde inzwischen die Unterbringung der Geschenke für den heiß erwarteten neuen Erdenbürger und unter dem Ehebett wurde es immer enger.
    »Wenn das so weitergeht, ist kein Platz mehr für das Kind!«, ulkte er.
    Der Tag der Geburt rückte näher und George Lincoln musste einsehen, dass sein Vorhaben, mit dem Fahrrad im Winter nach Dublin zu fahren, eine Schnapsidee war. Aber auch Sandy hatte sich anders besonnen. Sie wollte das Kind lieber in Ithaca zur Welt bringen, schon wegen der Strapazen einer Rückreise, denn bis zum Frühjahr wollte sie nicht in Virginia bleiben.
    Sandy war George Lincoln noch nie schöner und fraulicher erschienen als in ihrem jetzigen Zustand. Alles an ihr strahlte Wärme und stilles Glück aus, was sich auf ihn und alle übertrug, die mit ihr zu tun hatten. Ihr Bauch war prall und fest wie ein großer Kürbis und manchmal fragte er sich, wie ein voll ausgebildetes Menschlein durch eine so enge Öffnung passen konnte. George Lincoln sagte sich immer wieder, dass es schon Millionen und Abermillionen Mal so gewesen war, auch bei seiner Frau so sein würde, trotzdem überstieg es sein Vorstellungsvermögen. Schonen musste sie sich, alle Kräfte sammeln! Aber Sandy meinte, er würde mit seiner Vorsicht manchmal übertreiben, und als er gar noch anfing, seine Kochkünste zu bemühen, stieß er bei ihr auf heftigen Widerstand.

    Burr referierte gerade über Toleranz und Intoleranz zwischen Katholiken und Protestanten im sechzehnten Jahrhundert, betonte, ihn interessiere es weniger, wie die Menschen in die Grube hineingefallen seien, sondern viel mehr, wie sie wieder herausgefunden hätten, als sich die Tür öffnete.
    »Professor Burr, Professor Burr, Sie sollen sofort nach Hause kommen!«
    George Lincoln wurde es abwechselnd heiß und kalt. Vor ein paar Stunden war Sandy doch noch in bester Verfassung gewesen, hatte lächelnd seine Besorgnis zerstreut. Oft konnte es ganz schnell gehen, das hatte er schon gehört.
    Wahrscheinlich machte er sich nur selbst verrückt. Aber hatte der Bote nicht ausdrücklich »sofort« gesagt? Burr flog geradezu die Treppe hinab, schwang sich auf sein Fahrrad, trat es heimzu mit aller Kraft über den gefrorenen Schnee auf den Gehwegen. Außer Atem rannte er nach oben, riss die Tür zum Flur auf und blieb wie angewurzelt stehen. Die Hebamme war da, Tränen liefen über ihr Gesicht, die Haltung hilflos, die Schürze blutbeschmiert.
    George Lincoln wurde bleich. »Was ist mit Sandy?«, fragte er tonlos.
    »Doktor Webber ist bei ihr.«
    »Wieso Doktor Webber?« Burr wollte zum Schlafzimmer, aber sie hielt ihn zurück.
    »Es ist besser, Sie gehen da vorerst nicht hinein!«
    »Das Kind? Was ist mit dem Kind?«
    »Bitte setzen Sie sich!«
    »Nein! Ich will mich nicht setzen! Was ist mit dem Kind?«, schrie er nun beinahe.
    Die Hebamme druckste herum, wand sich, knetete ihre Hände.
    »Es war ein Junge!«, sagte sie dann leise. »Er ist tot!«
    George Lincoln war es, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie ein

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