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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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dachte sie, es mit einem Irren zu tun zu haben. Doch das war ihm momentan völlig gleichgültig.
    »Wissen Sie, wann die nächste Bahn nach Basel geht?«
    Die Frau schüttelte den Kopf und meinte verwundert: »Sie kommen doch gerade von da…«
    Der Zug verlangsamte seine Fahrt, grell schrillten die Bremsen auf und der Lokführer kündigte mit einem lang gezogenen Pfeifen die Einfahrt in einen Bahnhof an. George Lincoln blieb keine Zeit für Überlegungen oder Erklärungen.
    Hastig warf er sich seinen Mantel über, langte nach dem Koffer und zerrte ihn hinter sich her auf die rückwärtige Plattform des Wagens. Der Zug war noch nicht ganz zum Stillstand gekommen, als er ungeduldig absprang und auf den Bahnhofsvorsteher zustürzte, der mit seiner roten Mütze und einer Kelle in der Hand auf dem Bahnsteig stand.
    »Wann geht der nächste Zug nach Basel?«
    Der Mann sah ihn wie schon vorher die Frau irritiert an.
    »Nach Basel?« Er überlegte einen Augenblick. »Sind Sie in den falschen Zug eingestiegen?«
    »Nein, aber ich muss unbedingt zurück!«
    »In eineinhalb Stunden«, antwortete der Mann.
    Burr überlegte. »Gibt es hier einen Telegrafenapparat?«
    Kopfschütteln.
    »In der nächsten Station?«
    Wieder Kopfschütteln.
    Wie es aussah, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen und zu hoffen, dass die Tasche noch auf dem Stuhl in der Gaststätte lag oder sie jemand bei der Bedienung abgegeben hatte. Nach einer längeren Debatte um die Rückerstattung eines Teiles des Fahrpreises, in der der Vorsteher beharrte, dafür sei er nicht zuständig und der Herr müsse das schriftlich beantragen und begründen und mit einem Rückkuvert an die Hauptverwaltung schicken, sah sich Burr gezwungen, ein neues Billett nach Basel zu lösen.
    Die Zeit, von dem gleichmäßigen Ticktack der
    Perpendikeluhr im Warteraum in kleine Einheiten zerhackt, verging endlos langsam. Je länger George Lincoln über sein Missgeschick sinnierte, desto stärker wuchs in ihm die Überzeugung, die Tasche mit der Flade-Dissertation bald wieder in Händen zu halten. Schließlich konnte nur er damit etwas anfangen, für andere war der Inhalt lediglich ein Packen wertlosen Papiers. Als endlich der von Zürich kommende Zug einrollte, kam es Burr wie eine Erlösung vor. Während der Rückfahrt hatte er allerdings keinen Blick mehr übrig für vorbeiziehende Landschaften und mäandernde Bäche.
    In Basel stürzte er sofort in die Gaststätte. Dort saß nur noch eine Hand voll Leute. Zielstrebig hielt er auf den Tisch zu, zog die Stühle zurück, aber die Tasche war fort. Mit einer gewissen Erleichterung stellte er fest, dass wenigstens die Serviererin, die ihn bedient hatte, noch da war. Burr spürte sein pochendes Herz bis hinauf in den Hals. »Verzeihen Sie«, sagte er mit vor Aufregung heiserer Stimme, »Sie sind meine letzte Hoffnung.
    Ich habe heute Mittag hier gegessen und meine Aktentasche liegen gelassen!«
    Die Kellnerin sah ihn einen Moment lang an und überlegte.
    »Ja, Sie sind doch da hinten an dem kleinen Tisch gesessen?«
    Burr nickte heftig.
    »Eine Tasche sagen Sie?«
    »Ja, schwarz mit zwei Schnallenverschlüssen!«
    Sie legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. »Jetzt fällt es mir wieder ein!« Sie machte eine kurze Pause und George Lincoln kam es vor, als ob sie ihn als Strafe für seine Schussligkeit ein wenig zappeln lassen wollte. »Nach Ihnen hat ein Mann auf Ihrem Stuhl Platz genommen und ein großes Bier bestellt!«
    »So ein Dicker?« Mit den Händen deutete er den
    Leibesumfang des Berner Druckers an.
    »Nein, der ist gleich nach Ihnen gegangen. Es war ein hagerer Mann, dem Aussehen nach ein Arbeiter, Handwerker oder Bauer, so genau habe ich ihn mir nicht angeschaut. Aber der ist mit einer Tasche gegangen!«
    »Ostermontag 1886«, murmelte Burr leise, »diesen Tag werde ich so schnell nicht vergessen.«
    Wie benommen wandte er sich um, suchte die
    Bahnhofspolizei auf und erstattete eine Verlustanzeige, wobei ihm noch einfiel, dass es vielleicht hilfreich sein könnte, einen Finderlohn auszusetzen. In einem kleinen Gasthof nahm er sich ein billiges Quartier. Zweimal täglich erschien er im Bahnhof, aber die Tasche blieb verschwunden. In der übrigen Zeit durchstöberte Burr Antiquariate, Buchhandlungen und Bibliotheken. Besonders angetan hatte es ihm die Basler Buch-und Antiquariatshandlung, in der er seine Corneller Adresse hinterließ. Nach einigen Tagen kaufte er sich eine Bahnkarte nach Trier,

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