Die Lichtfaenger
um von neuem die Arbeit an seiner Dissertation zu beginnen. Dort war man nicht wenig erstaunt, den Amerikaner so schnell wieder zu sehen.
Nach fast vier Wochen musste sich George Lincoln
eingestehen, dass die Frist, die er sich gesetzt hatte, nicht ausreichen würde, um seine Doktorarbeit neu zu verfassen.
Sicher, er besaß ein phänomenales Gedächtnis, was vieles erleichterte, aber es war trotzdem nicht zu schaffen. Zudem sah er es als vergeudete Zeit, da es ihm selbst ziemlich gleichgültig war, ob er einen Doktortitel besaß oder nicht. Sein Zeitplan war durch den Verlust vollkommen durcheinander geraten, eigentlich sollte er jetzt in Leipzig sein, saß aber hier in Trier fest. Entsprechend war seine Stimmung, und die letzten Briefe von Pee trugen nicht dazu bei, sie aufzuhellen. Zwischen den Zeilen las er, wie sie sich immer weiter von ihm entfernte.
Selten noch schimmerte so etwas wie Begeisterung für eine gemeinsame Zukunft durch, von Sehnsucht war kaum noch die Rede und ihre Sätze empfand er seltsam steif und gedrechselt.
Es war nicht so, dass sich George Lincoln mit Arbeit betäuben wollte, aber sie kam einfach auf ihn zu. Gerade war ihm die deutsche Ausgabe von Binsfelds Werk in die Hände gefallen, deren Vorwort er entnehmen konnte, dass sie der heimische Drucker Heinrich Bock selbst aus dem Lateinischen übersetzt hatte. Ausdrücklich widmete er die Schrift Zandt von Merl und dankte der Trierer Obrigkeit überschwänglich für ihren Eifer bei den Verfolgungen. Zandt von Merl war demnach nicht nur ein Mitläufer gewesen, wie man bisher allgemein angenommen hatte, sondern eine, wenn nicht sogar die treibende Kraft hinter den Hexenjagden. Einer, der Amt und Beziehungen als kurfürstlicher Statthalter dazu genutzt hatte, Widersacher in Verruf zu bringen, und der
Verfahrensregeln missachtet hatte, wenn es ihm opportun erschien. Das entnahm Burr einem anderen Dokument. Ein Adam Röder, dessen Unschuld in einem Purgationsverfahren festgestellt und dessen Ehre damit wieder hergestellt hatte werden sollen, was aber augenscheinlich nicht im Sinne des Statthalters war, hatte Zandt von Merl des Amtsmissbrauchs und der Manipulation bezichtigt. Gern hätte sich George Lincoln weiter in die Röder-Papiere vertieft, aber er war auf etwas aufmerksam geworden, was ihm bedeutend wichtiger erschien. Das Musiel-Register! Über verschlungene Umwege war dieses einzigartige Schriftstück nach Trier zurückgelangt.
Zwar hatten sich schon einige Leute damit beschäftigt, waren aber zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen. Auch er, Burr, würde es nicht vollständig auswerten können, dazu reichte die Zeit nicht, doch er wollte wenigstens überschlägig die Einträge erfassen. Das Ergebnis jagte selbst ihm, dem nüchternen Wissenschaftler, der es gewohnt war, eine gewisse Distanz zu seiner Arbeit zu halten, gelegentlich Schauder über den Rücken. Über sechstausend Einträge zählte er, festgehalten für den Zeitraum vom 12. März 1586 bis zum 4. August 1594.
Über sechstausend Besagungen, Denunziationen,
Verdächtigungen in nur acht Jahren! Neben vielen Namen standen Vermerke wie »besagt«, »ist hingerichtet«, »ist tot«,
»ist gefangen«, »ist entlaufen«, »Schadenszauber«. Welche Angst, welche Trübnis musste damals in den Herzen der Menschen geherrscht haben! Konnten sie überhaupt noch so etwas wie Freude oder Lebenslust empfinden? War nicht der Anbruch eines neuen Tages eine erneute Bedrohung, die Dämmerung des Abends lediglich deren Fortsetzung? Das Format des Verzeichnisses war trotz seiner
fünfhundertsiebenundfünfzig Seiten sehr handlich. Es konnte problemlos überallhin mitgenommen werden und so konnte unverzüglich gleich an Ort und Stelle festgestellt werden, ob gegen einen Befragten schon eine Aussage vorlag, ohne lange verschiedene Prozessakten studieren zu müssen. Bei der Zahl der Hinrichtungen kam er auf etwa dreihundert, aber das war etwas schwierig zu verifizieren, da hinter manchen Namen mehrere Kreuze standen. Waren damit Verhöre gemeint? Oder war es die Häufigkeit der Besagungen?
Vorgestern war er auch noch auf ein Amtsbuch gestoßen, das auf unbekannten Pfaden in den Besitz einer Bäuerin namens Maria Magdalena Rummel gelangt und in dem der erste nachweisbare Hexenprozess im Territorium der Abtei St.
Maximin verzeichnet war. Heute war Sonntag und noch eine Woche hin bis Pfingsten. Eigentlich hatte er vorgehabt, einer weiteren seiner Leidenschaften nachzugehen. Wandern war an
Weitere Kostenlose Bücher