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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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Abschrift aufgetaucht, das sich inzwischen aber wieder in Trier befand. Unverzüglich war Burr daraufhin in die Moselstadt aufgebrochen, hatte sich eine Abschrift besorgt und war dann auf Whites Vorschlag hin zum Studium der Grundlagen der Diplomatie an die Pariser Sorbonne gegangen, wo er außerdem ein Seminar über Paläografie, die Lehre über die Entstehung und die Formen alter Schriften, belegt hatte.
    George Lincoln war ganz in das Manuskript versunken und musste sich erst orientieren, wo er überhaupt war, als die Kellnerin mit einem Teller in der Hand neben seinem kleinen Ecktisch erschien. Eilig klappte er die Mappe zusammen und verstaute sie in seiner Aktentasche, die er auf dem leeren Stuhl neben sich ablegte.
    Es war Ostermontag, die Gaststätte füllte sich zusehends und Burr bezahlte sofort, um nachher nicht womöglich endlos auf die Serviererin warten zu müssen. Ein kleiner, dicker Mann sah sich suchend um, kam dann auf ihn zu, fragte, ob an seinem Tisch noch ein Platz frei wäre, und ließ sich schwer schnaufend auf einem Stuhl nieder. Es stellte sich heraus, dass der Dicke in Bern eine Druckerei besaß und über die Feiertage zu Besuch bei seinem Bruder gewesen war. George Lincoln erinnerte sich begeistert an seine eigene Zeit als Drucker in Cortland, wollte wissen, welche technischen
    Neuentwicklungen es gab und wie die Geschäfte hier in Europa liefen.
    »Ja, das war die schönste und vor allem glücklichste Zeit meines bisherigen Lebens, selbst wenn es manchmal hart war«, lächelte er und ließ nebenher den Deckel seiner Taschenuhr hochklappen.
    »Um Gottes willen!«, entfuhr es ihm. »In vier Minuten geht der Zug und ich weiß nicht einmal, von welchem Bahnsteig!«
    Noch im Aufspringen fasste er nach seinem Gepäck und warf sich den Mantel über den Arm. Dann rannte er zu dem Ausgang, der zu den Zügen führte, fragte sich zum Bahnsteig nach Zürich durch und erwischte gerade noch die Tür des letzten Wagons, die der Schaffner soeben schließen wollte. Der Bahnbedienstete sah ihn unfreundlich an, Burr aber setzte der Grantigkeit ein Lächeln entgegen und zwängte sich an ihm vorbei. Im Abteil wuchtete er den Koffer in die Gepäckablage und hängte seinen Mantel an den Haken, wobei er darauf achtete, dass sich möglichst wenige Falten bildeten.
    »Das war ganz schön knapp!«, meinte die Frau gegenüber, während die Lokomotive einen hellen Pfiff ausstieß und sich der Zug ruckend in Bewegung setzte.
    George Lincoln liebte das Zugfahren. Er genoss es immer wieder, wie Häuser, Bäume, Sträucher, Wälder und Seen an ihm vorbeiflogen. Wie sonst konnte man innerhalb kürzester Zeit so verschiedene Landschaften erleben? Hier mäanderte noch ein Bächlein gemächlich durch die Wiesen, gleich darauf wuchs eine Felswand bedrohlich auf und nach der nächsten Biegung donnerte man über ein Viadukt, tief unter sich ein Tal! Höflich, wie es seine Art war, bat er die Frau, das Fenster öffnen zu dürfen, wogegen diese nichts einzuwenden hatte.
    Breit auf den Querrahmen abgestützt, hielt Burr seinen Kopf in den Fahrtwind, der sogleich seine Haare zerzauste. Mit zusammengekniffenen Augen wehrte er sich gegen die vereinzelt herumfliegenden Rußpartikel, und als er genug hatte, schloss er das Fenster und ließ sich auf die Holzbank fallen. Die Beine übereinander geschlagen, saß Burr nun da, hörte auf das rhythmisch stampfende Fauchen der Lokomotive und das monotone Dadang-Dadang-Dadang der Räder.
    Unvermittelt wich alle Farbe aus seinem Gesicht und er sprang mit einem Satz in die Höhe, worüber die Frau so sehr erschrak, dass sie ein kleines, spitzes »Huch« ausstieß. Mit einem Ruck riss er den Koffer herunter, sah hinter seinen Mantel, stieg auf die Bank, tastete mit fliegenden Händen über die Gepäckablage und ließ sich dann am Boden auf die Knie nieder. Aber auch da lag nichts! Sie war weg! Verschwunden!
    Die Aktentasche mit der fast fertigen Dissertation war weg!
    Wie in Trance ließ sich George Lincoln auf die Bank gleiten.
    Wo hatte er sie zuletzt gehabt? Er überlegte fieberhaft. Nein, in den Zug hatte er sie nicht mitgenommen, da war er sich sicher.
    Jetzt erinnerte er sich. Er hatte sie in der Gaststätte in Basel auf dem Stuhl neben sich abgelegt und in der Eile seines Aufbruchs dort vergessen! Die ganze Arbeit womöglich umsonst!
    »Ruhig, George, ruhig!«, ermahnte er sich halblaut, während die Frau ihn beinahe ängstlich anstarrte und jede seiner Bewegungen verfolgte. Wahrscheinlich

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