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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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war er das erste Mal in der Situation gewesen, dass er seinen Pass nicht bei sich hatte. George Lincoln tat nun dasselbe, was er auch in Italien getan hatte: Er beschränkte die Konversation seinerseits auf hilfloses Schulterzucken und verzweifeltes Hochheben der nach oben gedrehten Handflächen, um dem Ordnungshüter zu signalisieren, dass er rein gar nichts verstand. Sein Gegenüber aber blieb hartnäckig. Ihn unentwegt zu fragen, was er hier tue, gab er nach einer Weile zwar auf, dafür wiederholte er ständig lettre d’identité und zeichnete unentwegt mit Daumen und Zeigefingern ein Viereck in die Luft. Als er damit nicht weiterkam und George Lincoln ihn zunehmend hilfloser ansah, reduzierte er seine Aufforderung auf lettre und, als auch das nichts half, auf papiers.
    Nein, den würde er so nicht loswerden. Ein begreifendes Strahlen lief plötzlich über Burrs Gesicht, mit der Rechten tippte er sich in freudiger Erkenntnis an die Stirn und sagte dann auf Deutsch: »Ach, Papiere! Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin!«
    Immer noch im Nachthemd, zog er seinen Rucksack unter dem Bett hervor und begann umständlich den Inhalt auf dem kleinen Tisch auszubreiten. »Mist!«, dachte er. »Du musst dir endlich einmal angewöhnen, deinen Pass bei dir zu tragen. In der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof hilft er dir nicht viel!«
    Endlich hatte er gefunden, was er vorgestern mehr zufällig in der Innentasche seiner Jacke entdeckt hatte. »Hier, meine Papiere!«, sagte er freundlich auf Deutsch und hielt dem Ordnungshüter ein Blatt hin, auf dem sich einige Stempel befanden. Misstrauisch und mit amtsernster Miene drehte der es nach allen Seiten, hob es gegen das Licht und besah sich eingehend die Abdrücke. Bevor der Polizist auf andere Gedanken kommen konnte, trat Burr neben ihn und deutete auf den handschriftlichen Eintrag.
    »George L. Burr« stand da und er las ihm »Georg Ludwig Burr« vor, während er sich an die Brust tippte. Dass darüber
    »Ausweis für die Bibliothek der Universität Leipzig« stand, brauchte den anderen ja nicht zu interessieren.
    »Ah, allemand!«, sagte nun der Amtmann. As er George Lincoln zum Mitkommen aufforderte, waren dessen
    Französischkenntnisse auf den absoluten Nullpunkt gesunken.
    Mit kaum verhüllter Wut stopfte der Gendarm das Papier in seine Joppentasche, warf die Tür hinter sich zu und polterte die Treppe hinab. Nach gut einer Stunde – Burr hatte das Frühstück hinter sich und saß mit seinem Gastgeber, einem Lehrer, der nebenher eine kleine Schafzucht betrieb, in der Küche – kam der Ordnungshüter zurück. Verärgert, weil er wegen der Halsstarrigkeit dieses Deutschen den Weg doppelt hatte machen müssen, warf er das Papier unwirsch auf den Tisch. Burr zog es mit einem freundlichen Lächeln zu sich heran. Neben den grauen Leipzigern und dem roten Veroneser Stempel prangte nun ein dunkelgrüner des Bezirks Bordeaux.
    Sobald der Polizist außer Hörweite war, lachten George Lincoln und Gerard Aintroux laut auf.
    »Glück gehabt«, sagte Gerard, »dass nur unsere kleine Tochter da war, als er aufgetaucht ist, und meine Frau und ich draußen bei den Schafen waren. Einem von uns wäre es bestimmt herausgerutscht, dass Sie Amerikaner sind! Wenn Sie wollen, können Sie mich hinaus zur Herde begleiten und von dort weiter zum Bahnhof gehen.«
    Während die beiden Männer das Haus verließen, begann sich der leichte Nebel über der weiten Ebene zu heben, deren Horizont schimmernde Berge in bläulichem Dunst begrenzten.
    George Lincoln hatte am Tag zuvor in diesem Nest seine Bahnfahrt unterbrochen, da er nicht in der Stadt hatte übernachten wollen. Unsicher, welchen Weg er nehmen sollte, war er einen Augenblick dagestanden, und als der einzige andere Fahrgast, der aus dem Zug gestiegen war, die staubige Straße unter die Füße nahm, folgte er ihm nach und lief einfach neben ihm her. Gerard Aintroux, der aus der Nähe von Biarritz im Baskenland stammte, war als Lehrer hierher in die Umgebung von Bordeaux versetzt worden und hatte hier seine Frau kennen gelernt, deren Eltern ein kleines Haus mit ein paar Schafen besaßen. Übernachten? Ja, das könne er bei ihnen, in einer kleinen Dachkammer, wenn er keine allzu großen Ansprüche habe. Nein, es mache keine Umstände, es sei genug Platz im Haus. Nach dem Essen hatte George Lincoln bei einer Flasche schwerem Medoc-Wein mehr über das Baskenland wissen wollen und irgendwann spätabends waren sie bei Pierre de Lancre gelandet, dessen

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