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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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sitze gerade im Zug von Bordeaux nach Paris. Mr. White hat mich gebeten, noch nach Den Haag zu fahren, es geht da um einen Grenzverlauf zwischen Venezuela und Britisch Guyana. Anschließend werde ich nach Amsterdam
    Weiterreisen und von dort so bald als möglich ein Schiff in die Heimat nehmen. Ich hoffe, es geht dir gut. Bis zu unserem Wiedersehen wünsche ich dir alles Liebe. Dein George L.«
    Im Grunde war er froh, dass auf der Karte kein Platz mehr war. Aufatmend ließ er sich zurückfallen, verstaute Karte und Füller in seiner Tasche und holte den »Diskurs über Hexen«
    hervor. Wie de Lancre beschrieb Boguet ausführlich die unterschiedlichen Arten von Werwölfen, empfahl schnelles und wiederholtes Befragen, Einzelhaft in einer fensterlosen Zelle, scheinbare Komplizen, die die Inhaftierten zu einem Geständnis bewegen sollten. Als mögliche Anzeichen für eine Hexe führte er stetiges Zu-Boden-Blicken, einen zerbrochenen Rosenkranz und Tränenlosigkeit an.
    Welch tiefe Überzeugung an die Richtigkeit seines Tuns musste in einem Mann wie Henri Boguet gesteckt haben, der sich schamvoll selbst bemitleidete, einmal nicht hart genug gewesen zu sein? Der es bedauerte, kleine Kinder lediglich nackt und dreimal mit Ruten geprügelt um den Richtplatz getrieben zu haben, während die Schreie ihrer Eltern aus den Flammen gellten? Der empfahl, sie zwar nicht mit zu verbrennen, aber wenigstens aufzuhängen? Der heilsamen Eifer in der Bestrafung dem schädlichen Schein einer Begnadigung vorzog und an andere Richter appellierte, nicht so weichherzig zu urteilen wie er? Wie konnte so jemand, selbst wenn er von der Richtigkeit seines Tuns durchdrungen war, mit sich und seinem Leben im Einklang sein?
    Boguets Zeitgenosse Remigius kam ihm in den Sinn, den man schon zu Lebzeiten »die Hexenpeitsche« genannt hatte.
    Eigentlich hieß er Nicolas Remy, war lothringischer Generalprokurator und Hexenrichter und rühmte sich, in nur sechzehn Jahren an die achthundert Hexen und Zauberer zum Tod verurteilt zu haben. Andere Quellen sprachen von insgesamt zweitausend Todesurteilen. Verdächtig waren ihm Frauen, die nicht oder nur selten zur Kirche gingen, und noch verdächtiger diejenigen, die sehr häufig die Messe besuchten.
    Remigius stimmte zwar grundsätzlich mit den Ausführungen des »Hexenhammers« überein, fand ihn aber in manchen Bereichen zu nachsichtig, weshalb er ein Buch schrieb, in dem er eindringlich auf diesen Umstand hinwies. Natürlich verkaufte es sich gut.
    Burr rechnete im Kopf. Achthundert geteilt durch sechzehn Jahre, das macht fünfzig, also ungefähr jede Woche ein Todesurteil. Der vom Teufel befleckte Körper der Hexe war für Remigius das Schlachtfeld, auf dem er mit dem Höllenfürsten kämpfte. Es war ein furchtbarer Kampf, da die Hexen in der Lage waren, die Folter zu ertragen, ja dabei sogar einschliefen. Auch Remy kam zu der Erkenntnis, dass das Alter ein Kind nicht von Schuld befreie. Wie Henri Boguet starb Nicolas Remy verehrt und hoch angesehen. Das Amt als Hexenrichter übernahm sein Sohn Claude, der sich sehr schnell den zweifelhaften Ruhm als »gerichtlicher Attentäter«
    erarbeitete.
    George Lincoln stand auf und öffnete das Fenster. Die Sichel eines honiggelben Mondes hing hoch oben am Nachthimmel und zeichnete mit seinem falben Licht die Konturen der Hügel scharf, wie mit einer Schere ausgeschnitten. Tief sog er die frische Luft in seine Lungen, hielt den Kopf mit
    zusammengekniffenen Augen in den Fahrtwind und freute sich jungenhaft, wie dieser in seinen Haaren zauste. Nach und nach spürte er, wie der vergangene Tag seinen Tribut forderte.
    Durch das Rattern der Räder drang von einem nahen Kirchturm Glockenschlag. Burr zog seine Taschenuhr aus der Weste, ließ den Deckel aufspringen und hielt sie ins Licht.
    »Zwölf«, murmelte er, schob das Fenster nach oben, legte sich auf die harte Bank, zog seine Jacke über den Kopf und schlief fast augenblicklich ein. Ihm schien, als hätte er sich gerade erst hingelegt, als jemand heftig an seiner Schulter rüttelte. Ein Mann stand vor ihm im Halbdunkel. Soweit er es erkennen konnte, war es ein Uniformierter.
    Nein! Nicht schon wieder!, durchfuhr es ihn. Nicht schon wieder ein Polizist! Und auch noch mitten in der Nacht!
    »Orleans! Umsteigen!« Die Stimme des Schaffners klang ungeduldig.
    »Merci, Monsieur!«, murmelte George Lincoln benommen, richtete sich langsam auf und rieb sich mit beiden Händen den Schlaf aus den Augen.
    Die Zeiger auf dem

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