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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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großen Ziffernblatt an der Stirnseite des Gebäudes standen auf vier Uhr. Der Bahnhof war fast menschenleer, auf der anderen Seite des Perrons wartete bereits mit wie ihm schien ungeduldigem Fauchen die Lokomotive mit dem Anschlusszug nach Paris. Der salzige Schafskäse, den ihm Gerard Aintroux als Wegzehrung mitgegeben hatte, zeigte seine fatale Wirkung. Sein Mund war ausgetrocknet, ihm schien, die Zunge sei am Gaumen festgeleimt. Wasser! Aber wo war hier ein Wasserhahn? In dieser Dunkelheit würde er wohl nicht einmal dann einen sehen, wenn er direkt davor stünde. Sein Blick wanderte den Bahnsteig auf und ab und blieb schließlich an der Lokomotive auf der anderen Seite hängen.
    Gerettet!, dachte George Lincoln erleichtert. Was braucht eine Dampflok? Wasser!
    Den Koffer in der Rechten, den Rucksack über die Schulter geworfen und die Aktentasche unter den Arm geklemmt, hastete er schräg über die Gleise direkt auf die Pumpstation zu, vor der er dann ratlos stehen blieb. An dem riesigen Wassertank fand sich nur ein ebenso riesiger Hebel und ein Blick nach oben auf den gewaltigen Schlauch sagte ihm, dass er mit dessen Betätigung vermutlich den halben Bahnhof fluten würde. Im Führerstand tauchte ein geschwärztes Gesicht auf.
    »Wasser!«, krächzte Burr.
    Der Heizer zuckte nur die Schultern und hob die Hände, um zu deuten, dass er ihm nicht helfen könne.
    George Lincoln war es inzwischen gleichgültig, was passieren würde. Er hatte Durst, gewaltigen Durst und bis Paris war es noch weit. Kurz entschlossen zog er den Ausleger zu sich her, bis der Schlauch über dem Bahnsteig schwebte, und legte dann den Hebel nur ein kleines Stück weit um. Was daraufhin von oben kam, hatte entfernte Ähnlichkeit mit dem Taughannock-Wasserfall daheim in Ithaca. Gurgelnd schoss das Wasser in das dicke Rohr, platschte in einem
    schenkeldicken Strahl auf den Boden und sprang von dort etwa eine Elle in die Höhe. An seine Schaufel gelehnt, blickte der Heizer mit halb offenem Mund herab von der Lokomotive, während Burr seine Hände zu einer Kelle formte und das rettende Nass gierig in seine ausgedörrte Kehle laufen ließ.
    Dass er dabei von oben bis unten durchnässt wurde, ließ ihn vollkommen unberührt. Als er genug hatte, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und schob den Hebel in die ursprüngliche Position zurück. Inzwischen hatte der Heizer seine Fassung wiedergefunden. Was er sich da erlaube, schimpfte er, wenn das jeder machen würde, wo käme man da hin…
    George Lincoln beschloss zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden, der französischen Sprache nicht mächtig zu sein, lächelte freundlich zum Führerstand hinauf, nahm sein Gepäck und bestieg vergnügt einen der Wagons.
    Am frühen Vormittag rollte der Zug mit grellem Quietschen im Pariser Bahnhof aus. Nach und nach machte sich Enttäuschung in Burr breit. So sehr er auch den Perron absuchte, er konnte ihn nirgendwo entdecken und Caspar Rene Gregory war normalerweise nicht zu übersehen. Gregorys Kleidung war, höflich formuliert, merkwürdig. Seine Hosen und Westen hatten mindestens sechs Taschen, die Jacken wenigstens zehn und wenn sein Schneider eine freie Stelle für eine elfte entdeckte, war Caspar glücklich. Wichtig war ihm, dass sie alle möglichst groß und geräumig waren. So hatte allein seine Uhrentasche ein solches Ausmaß, dass eine kleine Ausgabe des Neuen Testaments darin Platz fand, das er immer bei sich führte. Zu seiner Ausrüstung zählten ein Schraubenzieher, ein verstellbarer Schraubenschlüssel, Nägel, eine Schere, Verbandstoff, Bindfaden und ein kleiner Hammer.
    All das schleppte er aber nicht für sich selbst mit herum, sondern weil es ja sein konnte, dass sich ein barfuß laufendes Kind an einer Glasscherbe verletzte oder der Leiterwagen eines alten Mütterchens den Dienst quittierte.
    George Lincoln nahm sein Gepäck auf, hielt direkt auf den Wartesaal zu und wollte gerade die schwere Tür öffnen, als er Gregorys unverkennbares, mit sächsischem Akzent
    eingefärbtes Englisch hörte.
    »Hallo, George, schön, dich zu sehen!«
    Da stand er nun plötzlich neben ihm, Caspar Rene Gregory, in seinem Taschenanzug, hager, drahtig, braun gebranntes, von einem Vollbart umrahmtes Gesicht, das widerspenstige Haar in der Mitte gescheitelt, dunkle Augen unter buschigen Brauen.
    Diese Augen! Aus ihnen sprach Güte, Ernst, Würde und Willen. Nicht sanfte, nachgiebige Güte, sondern geradezu glühende Tatkraft und Treue. Selbst wer

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