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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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ein Stück Vollkornbrot – machte er immer hundert Liegestützen, und wenn das nicht ging, weil er Besuch hatte, stellte er sich hinter den schweren Eichenschreibtisch in seinem Büro und lupfte –
    für den Besucher nicht wahrnehmbar – ersatzweise diesen hundertmal in die Höhe.
    Burrs Unterkunft war winzig, lag im zweiten Stock eines schmalen, eingezwängten Hauses in der Rue du Rhone und war über eine enge, steile Treppe zu erreichen. Das Inventar bestand aus einem nicht gerade breiten Bett, einer kleinen Kommode, einem kleinen runden Tisch und einem Rohrsessel.
    Die Vermieterin war eine neugierige Frau, wollte von Burr unter anderem wissen, was er beruflich mache. Als Gregory das Zimmer gemietet hatte, hatte sie diesen ebenfalls ausgefragt und dann gemeint, mit Bibelforschern habe sie schlechte Erfahrungen gemacht, die meisten seien ziemlich aufdringlich. Freundlich hatte er sich daraufhin die Zeit genommen, ihr zu erklären, dass sie da etwas verwechsle, seine Arbeit eine andere sei, dass es über viertausend Handschriften des Neuen Testaments in der griechischen Ursprache gebe, die über dreihundert Museen, Klöster und Bibliotheken in aller Herren Länder verstreut seien und fünfzigtausend oder vielleicht noch mehr Verschiedenheiten im Wortlaut aufwiesen, und dass es seine Arbeit sei herauszufinden, welche die älteste und ursprünglichste sei.
    Nun schien die gute Frau jedoch etwas anderes zu plagen.
    »Monsieur«, sagte sie, »ich habe über Ihre Arbeit nachgedacht.
    Ich kenne nur das, was der Pfarrer in der Kirche predigt. Aber wenn es so viele Unklarheiten gibt, wie Sie neulich erklärt haben, dann ist ja alles nur – wie soll ich sagen? –
    Auslegungssache? Ein Christ, der so etwas hört, muss doch zu zweifeln anfangen!«
    In ihrem runden Gesicht stand Ratlosigkeit.
    »Nein«, erwiderte Gregory freundlich, »vielleicht ein Achtel ist Auslegungssache, sieben Achtel des Urtestaments sind nach unserem Wissensstand geklärt. Aber auch über dieses eine Achtel, über jede noch so winzige Kleinigkeit brauchen wir Gewissheit. Wenn wir einen Stein oder eine Pflanze erforschen, verlangen wir ganz selbstverständlich Sicherheit.
    Wie viel mehr ist sie dann geboten, wenn es um die Bestimmung des Menschen geht? Die Wahrheit ist die Heimat der Seele. Nur in der Wahrheit findet die Seele Ruhe!«
    Die letzten beiden Sätze sagte er in großem Ernst und mit Feierlichkeit. In seinen Augen stand dieses seltsame Leuchten.
    Für einen Augenblick spürte Burr wieder etwas von der Durchdrungenheit dieses Mannes, den die Eltern mehr oder weniger zum Theologiestudium gezwungen hatten und der durch eben diesen Zwang etwas gefunden hatte, was den meisten anderen verschlossen blieb. Etwas umgab ihn, das eine Art Scheu einflößte, aber dennoch anzog. George Lincoln wusste nicht warum, doch plötzlich fiel ihm eine Geschichte ein, die ihm Caspar einmal erzählt hatte. Furchtlos war dieser zu Fuß allein durch das öde Palästina gezogen, nur ein paar Datteln und ein Stück Brot in der Tasche. Sein
    Trinkwasservorrat war erschöpft und so betrat er eine einsame Hütte und bat um etwas Wasser. Die Leute waren finstere Gesellen und nötigten ihn zu bleiben. Als er Anstalten machte, das Haus zu verlassen, versperrten sie ihm drohend den Weg.
    Gregory wartete eine günstige Gelegenheit ab und entkam. Er wähnte sich schon in Sicherheit, als zwei der Männer hoch zu Pferd ihm nachsprengten und ihn aufforderten, unverzüglich stehen zu bleiben. Unmissverständlich forderten sie sein Gepäck, durchwühlten seine Taschen, fanden jedoch nur seine Uhr, zwei Schlafdecken und ein paar Münzen. Der eine der beiden war darüber so aufgebracht, dass er Caspar mit seinem großen Dolch an die Kehle wollte. Während der ganzen Zeit hatte Gregory den anderen freundlich und ruhig angesehen.
    Dieser fiel nun seinem Kumpan in den Arm, sie stritten kurz miteinander, einigten sich und verabschiedeten sich beinahe unterwürfig mit seinen Habseligkeiten als Beute. Sie waren erst wenige Meter weit geritten, als sie kehrtmachten und ihm beschämt sein Eigentum zurückbrachten.
    Auf dem Weg zu Gregorys Unterkunft erzählte George Lincoln begeistert von dem großen Fund, den er gemacht hatte und der in den nächsten Tagen in Paris eintreffen würde.
    »Weißt du, das ist so viel, dass ich es gar nicht tragen kann. Ich muss mir irgendwo einen Handkarren besorgen!«
    »Ich muss dir auch etwas zeigen«, schmunzelte Gregory, während er die Haustür öffnete

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