Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
Vom Netzwerk:
ihm nur flüchtig begegnete, spürte die Aura, die diesen Mann umgab. Geboren war er in Philadelphia, seine Vorfahren waren französische Protestanten und seine Eltern strenggläubige Presbyterianer.
    Ihnen zuliebe hatte er Theologie studiert und Priester werden wollen, obwohl ihm ein Ingenieurstudium oder die Laufbahn als Offizier mehr zugesagt hätte. Schon bald war er in Gewissenskonflikte geraten, denn er konnte die Auslegung der Bibel als unumstößliche, vom Heiligen Geist selbst diktierte und bis in die kleinste Kleinigkeit unanzweifelbare Richtlinie so nicht hinnehmen. Ihm wurde klar, dass er unter diesen Umständen nicht Pfarrer werden konnte, andererseits in der Bibel weit mehr stand als nur Buchstaben.
    In seiner Not wandte er sich an einen seiner Professoren, der ihm einen Ausweg wies. Bei Constantin von Tischendorf in Leipzig solle er studieren, da sei er erst einmal weit weg. Am 10. Mai 1873 verließ Gregory Amerika, ging über Schottland, England und Irland nach Deutschland. Für den
    sechsundzwanzigjährigen Studenten war es fast wie ein Lotteriegewinn. Tischendorf war nicht irgendwer, er war weltberühmt. Im Februar 1859 hatte ihm der Verwalter des Katharinenklosters auf dem Sinai einen Packen alter Pergamentblätter übergeben, die in ein rotes Tuch eingeschlagen in einer Ecke seiner Zelle gelegen hatten. Es war die älteste je gefundene Handschrift der griechischen Bibel aus dem vierten Jahrhundert. Fünfzehn Jahre vorher hatte Tischendorf dreiundvierzig Blätter dieser Schrift in demselben Kloster in einem Papierkorb gefunden und sie dem sächsischen König geschenkt. Wenige Tage vor Gregorys Ankunft in Leipzig war Tischendorf an Überarbeitung gestorben. Gregory, so gut wie mittellos, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er mit der Übersetzung des Johannes-Evangeliums einen Fuß in die Tür bekam. Tischendorfs Witwe hatte ihm das letzte, noch unvollendete Werk ihres Mannes anvertraut, zu dem Gregory eine Einleitung schreiben sollte, mit der er aber bis heute nicht fertig war. In der Zwischenzeit hatte er nämlich begonnen, das Lebenswerk Tischendorfs, die Übersetzung des griechischen Urtestaments ins Lateinische, fortzusetzen, nicht ahnend, worauf er sich da eingelassen hatte. Unvermittelt fand er sich in Tischendorfs Fußstapfen wieder. In den letzten Jahren war er in Österreich, Italien, England und – wie auch jetzt – Frankreich gewesen.
    Burr war Gregory während seines Aufenthalts in Leipzig zwar nicht begegnet, hatte aber eine Menge Geschichten und Anekdoten über ihn gehört. Seine größte Freude bestand demnach darin, für einen einfachen Mann aus dem Volk gehalten zu werden. Wenn er etwa einer Krankenschwester den Koffer zur Straßenbahn trug und sie ihm ein Trinkgeld geben wollte, da sie ihn für einen Kofferträger vom Bahnhof hielt. Oder wenn ihn ein junger Student mit dem
    Bibliotheksdiener verwechselte und er diesen eine Stunde lang bediente. Oder auch die, als ein Student nicht zur Vorlesung erschien, worauf sich Gregory, nachdem er herausbekommen hatte, dass der junge Mann sturzbetrunken im Bett lag, unverzüglich zu ihm aufmachte, ihn freundlich weckte, sich besorgt nach seinem Befinden erkundigte und ihn zu einem gemeinsamen Spaziergang aufforderte, der bis Halle gegangen sein soll.
    Oder, oder… der Schnurren und Geschichten waren
    unzählige.
    Ihre Wege hatten sich erstmals in Paris gekreuzt, als Burr an der Sorbonne studierte und Gregory in der Nationalbibliothek auf der Suche nach neutestamentlichen Unterlagen war. Nun standen sie wieder hier in Frankreich, zwei Amerikaner, von denen einer nicht nur mit sächsischem Akzent sprach, sondern inzwischen sogar Bürger des Landes Sachsen war.
    »Abends kann ich dir gern behilflich sein und es würde mir Freude bereiten, wieder einmal mit dir durch die Buchläden zu ziehen«, sagte Caspar und in seinen Augenwinkeln war ein verschmitztes Funkeln. »Übrigens, eine Unterkunft habe ich dir besorgt. Gleich bei mir in der Nähe!«, setzte er hinzu und schnappte sich ohne lange zu fragen Burrs Koffer. George Lincoln wusste, was jetzt kommen würde, und tatsächlich, schon nach wenigen Schritten hatte er Mühe, dem Freund zu folgen, obwohl er nur noch den Rucksack und die Aktentasche zu tragen hatte. Gregory rannte zwar nicht, aber er schritt aus –
    und wie. Rennen musste Burr, um ihm hinterherzukommen.
    Caspar war durchtrainiert, an ihm war kein Gramm Fett zu viel. Nach dem Mittagessen – meist ein Apfel und

Weitere Kostenlose Bücher