Die Liebe deines Lebens
sie bei dem Selbstmordversuch gestorben. Caroline schluchzte, und ihre Schultern zuckten.
»Ich dachte, ich kann es keinem erzählen«, gestand sie schließlich.
»Aber jetzt weißt du, dass du dich geirrt hast«, sagte ich leise und gab ihr ein Papiertaschentuch. »Es gibt immer jemanden, der dir zuhört und dir hilft. Immer.«
Sie wischte sich die Augen, fasste sich wieder und schien nachzudenken.
»Ich hab mir die Pulsadern aufgeschnitten«, sagte sie nach einer Weile, hob die linke Hand und zeigte mir den Verband, als wäre er mir nicht von allein aufgefallen. »Vermutlich denken Sie jetzt, ich bin verrückt.« Sie musterte mich aufmerksam.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich hab im Internet nachgeschaut, wie man das macht, und hab meinen Rasierer dafür benutzt, aber es war zu schwierig. Ich hab die Haut nicht durchgekriegt. Und es hat weh getan. Es hat geblutet, aber sonst ist nichts passiert, ich hab auf dem Bett gelegen und gewartet, dass ich sterbe, aber es hat einfach nur weh getan. Da musste ich noch einmal ins Internet und nachschauen, was ich falsch gemacht hatte. Schließlich bin ich nach unten zu Mum, um es ihr zu zeigen, weil ich Angst gekriegt habe.« Sie weinte weiter. »Mum hat mich angeschrien:
Was hast du getan? Was hast du getan?
Und ich sag Ihnen, am liebsten wäre ich wieder nach oben gerannt und hätte es noch mal gemacht, damit ich nicht sehen muss, wie sie mich anschaut – ich kam mir vor wie ein Monster. Und Dad hört nicht auf zu fragen, warum. So wütend hab ich ihn überhaupt noch nie gesehen. Fast, als wollte er mich umbringen.«
»Er will dich nicht umbringen, Caroline. Er ist geschockt und hat Angst und will dich beschützen. Deine Eltern wollen dir helfen, aber dafür müssen sie verstehen, was passiert ist.«
»Sie werden mich umbringen«, stieß sie hervor und fing wieder an zu weinen. »Haben Sie sich auch so gefühlt? Haben Sie Ihre Mum gehasst?«
»Nein«, antwortete ich besänftigend und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Ein paar verschwommene Erinnerungen tauchten in meinem Kopf auf – wie Dad aus der Klinik nach Hause gekommen war, eine falsche Fröhlichkeit im Gesicht, als wären sie im Urlaub gewesen, wie meine Mum im strömenden Regen vollständig bekleidet auf dem Liegestuhl im Garten lag, weil sie »etwas fühlen« wollte. Selbst wenn sie mit mir im Zimmer war und es sich anfühlte, als wäre sie gar nicht da, selbst dann liebte ich sie, ich wollte bei ihr sitzen, ihr Gesellschaft leisten. Manchmal hielt ich ihre Hand und fragte mich, ob sie überhaupt merkte, dass ich da war. »Ich hab sie nie gehasst, keine Sekunde.« Dann schwieg ich einen Moment. »Warum war das Leben so unerträglich für dich? Was ist passiert?«
»Ich kann es meinen Eltern nicht sagen, aber sie werden es früh genug herausfinden. Eigentlich überrascht es mich, dass sie es nicht schon längst wissen. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule komme, erwarte ich, dass sie es wissen. Ich hatte Angst. In der Schule wissen alle Bescheid, alle glotzen mich an und lachen und sagen blöde Sachen zu mir. Sogar meine Freundinnen. Ich war ganz allein, niemand hat zu mir gehalten, niemand wollte mit mir reden. Nicht mal Aisling …« Sie verstummte, beschämt und traurig.
»Ist Aisling deine Freundin?«
»Sie war meine Freundin. Meine beste Freundin. Schon seit wir fünf sind. Und sie hat mich nicht mal mehr angeschaut. Einen ganzen Monat. Zuerst waren es die anderen, und sie war noch meine Freundin, aber dann ist es schlimmer geworden, sie haben Sachen in meinen Spind getan, eklige Sachen, und auf Facebook haben sie dauernd irgendwelchen Scheiß über mich geschrieben und Lügen verbreitet. Und dann haben sie das mit Aisling auch gemacht, und sie hat mir die Schuld daran gegeben und wollte nicht mehr mit mir befreundet sein. Ich meine, wie denn auch?«
»Ist irgendwas passiert, was die anderen über dich rausgekriegt haben?«, fragte ich.
Sie nickte, Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Online?«
Sie nickte wieder. Dann machte sie ein überraschtes Gesicht. »Wissen Sie es?«
»Nein. Aber du bist nicht der erste Mensch, der so etwas erlebt, Caroline. War das … irgendeine peinliche Situation?«
»Er hat mir gesagt, es ist bloß für uns«, sagte sie, und ihr Gesicht war puterrot. »Und ich hab es ihm geglaubt. Und dann hat mir eine Freundin eine SMS geschickt, dass es auf Facebook ist, und dann haben alle angerufen. Ein paar waren richtig sauer auf mich und haben gesagt, ich bin eine
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