Die Liebe deines Lebens
wie jemand, der irgendwohin unterwegs war, nicht wie jemand, der vorhatte, von einer Brücke zu springen. Er fühlte sich stark an, meine Arme reichten kaum um ihn herum, so breit war sein Brustkorb, aber ich hielt ihn fest und hatte nicht vor, ihn jemals wieder loszulassen.
»Was machen Sie denn da?«, keuchte er, und seine Brust hob und senkte sich heftig.
Zögernd öffnete ich die Augen und sah mich nach der Menschenmenge hinter mir um. Kein Blaulicht war zu sehen, niemand machte Anstalten, mich zu unterstützen. Meine Beine zitterten noch mehr, als wäre ich es, die in die schwarzen Tiefen der Liffey hinunterstarrte.
»Tun Sie es nicht«, flüsterte ich und begann zu weinen. »Bitte tun Sie es nicht.«
Er versuchte, sich zu mir umzudrehen, aber ich stand zu dicht hinter ihm, er konnte mein Gesicht nicht sehen.
»Was machen Sie denn … weinen Sie etwa?«
»Ja«, schniefte ich. »Bitte tun Sie es nicht.«
»Meine Güte.« Wieder wollte er sich umdrehen und mich ansehen. Ich weinte immer heftiger, völlig unkontrolliert, meine Schultern zuckten, aber ich umklammerte weiterhin seinen Brustkorb und hielt ihn ganz fest.
»Was zum Teufel …« Er wand sich in meinen Armen und schob langsam die Füße an der Brüstung entlang, bis er sich umdrehen und mir ins Gesicht sehen konnte.
Unsere Blicke trafen sich.
»Ist … ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er. Auf einmal klang seine Stimme ein bisschen sanfter, und es war, als käme er allmählich aus der Trance, in der er sich befunden hatte.
»Nein.« Ich wollte aufhören zu weinen, wollte mir die Nase putzen, aber ich hatte Angst, ihn loszulassen.
»Kenne ich Sie?«, fragte er verwirrt, studierte mein Gesicht und fragte sich offensichtlich, weshalb ich so versessen darauf war, ihn zu retten.
»Nein.« Ich schniefte wieder, hielt ihn noch fester und umarmte ihn, wie ich seit Jahren keinen Menschen mehr umarmt hatte – seit der Zeit, als meine Mutter mich im Arm gehalten hatte.
Er starrte mich an, als wäre ich verrückt, als wäre er der Vernünftige und ich die Durchgeknallte. So standen wir praktisch Nase an Nase, und er studierte mein Gesicht, als suche er wesentlich mehr, als er sehen konnte.
Der Bann brach, als irgendein Idiot, der am Ufer stand, plötzlich brüllte: »Jetzt spring endlich!« Mit neu erwachter Wut versuchte der junge Mann sich aus meinem Klammergriff zu befreien.
»Nehmen Sie endlich die Hände weg«, verlangte er und versuchte mich abzuschütteln.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Hören Sie mir bitte zu«, sagte ich und bemühte mich um Fassung. »Da drin ist es ganz anders, als Sie es sich vorstellen«, erklärte ich, schaute nach unten ins Wasser und versuchte mir auszumalen, wie es sich wohl für ihn anfühlte, in die Finsternis hinabzustarren und sich zu wünschen, alles wäre zu Ende. Wie schlecht es ihm gehen musste – sonst würde er sich so etwas doch niemals wünschen. Wieder musterte er mich durchdringend. »Sie wollen nicht Ihr Leben beenden«, fuhr ich fort, »Sie wollen nur, dass der Schmerz aufhört, der Schmerz, den Sie jetzt fühlen, der Schmerz, mit dem Sie bestimmt jeden Morgen aufwachen und abends ins Bett gehen. Vielleicht versteht das niemand in Ihrer Umgebung, aber ich verstehe es, glauben Sie mir.« Ich sah, dass seine Augen sich mit Tränen gefüllt hatten; ich war zu ihm durchgedrungen. »Aber Sie wollen nicht die ganze Zeit, dass es zu Ende ist, richtig? Nur manchmal ist der Gedanke da, wahrscheinlich in letzter Zeit öfter als sonst. Vielleicht ist es für Sie fast zur Gewohnheit geworden, sich verschiedene Methoden auszudenken, wie Sie allem ein Ende bereiten könnten. Aber es geht jedes Mal wieder vorbei, oder nicht?«
Er sah mich aufmerksam an.
»Es ist nur ein
Moment
. Jeder Moment geht vorüber. Wenn Sie abwarten, geht der Moment vorbei, und im nächsten wollen Sie Ihr Leben gar nicht mehr beenden. Wahrscheinlich denken Sie, es wäre allen egal, wenn Sie nicht mehr da sind, oder die anderen würden schon drüber wegkommen. Vielleicht glauben Sie sogar, die anderen wollten, dass Sie es tun. Das stimmt aber nicht. Niemand möchte, dass jemand anderes Selbstmord begeht. Vermutlich fühlt es sich an, als gäbe es keine andere Möglichkeit, aber es gibt welche, Sie können den Moment überstehen. Kommen Sie runter von der Brücke, dann reden wir darüber. Was immer geschehen ist, Sie werden es überstehen. Es ist nur ein Augenblick«, flüsterte ich, und die Tränen strömten mir über
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