Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
verpflichtet, ihn darin noch zu übertreffen. Mathilda hatte mehr als genug von dem Frost. Als könnte sie ihm auf zwei Beinen entfliehen, hastete sie weiter Richtung Altstadt. Der glitschige Straßenbelag aber steckte mit den Eisheiligen unter einer Decke. Dank des Schwitzwassers von den Mauern und einiger sich vorwitzig zwischen den Fugen herausschiebenden Grasbüschel verwandelte er sich in eine halsbrecherische Eisbahn. Mathilda verfluchte ihren Leichtsinn, auf Trippen verzichtet zu haben. Längst war das Leder der Schuhe von Feuchtigkeit vollgesogen und die Sohlen so glatt, dass sie wie Seifenstücke über die halb gefrorenen Pflastersteine schlitterten.
Nach einer halben Ewigkeit gelangte sie endlich aus dem Schatten der kühlen Klostermauern hinaus. Erleichtert warf sie einen letzten Blick zurück. Gnädig umhüllte Nebel die unscheinbaren Mauern des ehemaligen Benediktinerinnenkonvents St. Marien. Kaum ragten der massive Kirchturm und das nicht minder massige Dach der Kapelle aus den dichten Schwaden empor. Dennoch war deutlich zu erkennen, wie gefährlich schräg sich das gesamte Anwesen zum Fluss hin neigte. Es hatte den Anschein, als wollte es ob seiner Hässlichkeit vor Scham darin versinken. Zwei Menschenalter war es her, als es das tatsächlich einmal getan hatte und ein Teil der Gebäude in den Neuen Pregel gestürzt war. Die schauerliche Mär vom fürchterlichen Tod eines halben Dutzends jungfräulicher Ordensschwestern in den eisigen Frühjahrsfluten geisterte seither durch die kahlen Gänge des Klosters und erschreckte seine Bewohner bei jedem lauten Balkenknarzen.
»Wen haben wir denn da?«, ertönte kurz vor dem Stadttor eine Frauenstimme wie aus dem Nichts. Mathilda erschrak. War sie jetzt auch schon von Sinnen? Weit und breit war niemand zu sehen. Warfen die ruhelosen Seelen der in den Pregelfluten Ertrunkenen schon die Netze nach ihr aus? Dazu aber hörte sich die Stimme viel zu bestimmt an. Sie schalt sich eine törichte Närrin. Geister gab es nicht! Entschlossen kniff sie die Augen zusammen, sah sich genauer um. Nah vor dem Schatten eines dichten Weißdornbuschs erspähte sie die Gestalt von Gret Selege, wie sie sich mit ihrer hellen Haube und dem ebenso hellen Umhang langsam aus dem Nebeldunst herausschälte. Mathilda wollte aufatmen, da gewahrte sie ein freches Funkeln in den blauen Augen von Doras Schwägerin. »Ihr kommt wohl aus dem Tollhaus.« Voller Genuss ließ Gret den Satz nachhallen, bevor sie weitersprach. »Eines muss man Euch trotz allem zugutehalten, zumindest schaut Ihr gelegentlich nach der armen Seele, die Ihr ohne Doras Wissen ins Hospital abgeschoben habt.«
Empört rang Mathilda nach Luft, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. Den Mund gespitzt, verengte sie die mandelförmigen grünen Augen zu schmalen Schlitzen und maß ihr Gegenüber mit strengem Blick. »Wie schön, Euch hier zu treffen, meine Liebe«, säuselte sie betont süß. »Solltet Ihr nicht Elßlin beim Kochen zur Hand gehen? Die Männer werden bald sehr hungrig von der Baustelle in der Junkergasse zurückkehren. Von dem gefräßigen Lienhart ganz zu schweigen. Ein Knabe seines Alters braucht nach der anstrengenden Schule tüchtig etwas auf die Knochen.«
»Gut zu hören, dass Ihr so um das Wohl meines kleinen Schwagers besorgt seid. Unter Eurer Obhut wird er endlich kräftig wachsen und gedeihen. Warum kümmert Ihr Euch eigentlich so sehr um ihn? Mit seinen zehn Jahren bedarf er solch besonderer Fürsorge gar nicht mehr. Oder verfolgt Ihr damit andere Absichten?«
Gret reckte das Kinn in die Luft, stemmte die Hände in die Hüften und vertiefte ihren herausfordernden Blick. Mathilda spürte unbändigen Zorn in sich aufwallen. Am liebsten würde sie die unverschämte junge Frau an ihren bernsteingoldenen Haaren packen und kräftig schütteln, bis ihr klarwurde, welche Achtung sie einer Frau wie ihr schuldete. Mitten auf der Straße aber war das undenkbar. Ohnehin sammelte sich vor dem nahen Holztor zur Altstadt eine ganze Schar Wartender, darunter einige ihr gut bekannte Kaufleute und Bürgersfrauen. Hastig grüßte Mathilda und zog Gret hinter den Weißdornbusch.
»Was fällt Euch ein, derart mit mir zu reden? Ich sollte wohl besser einmal mit Eurem Schwäher unter vier Augen ein ernstes Wort über Euer Betragen wechseln.«
»Tut das, meine Liebe, tut das ruhig.« Gret grinste immer noch. »Der gute Wenzel wird sich freuen, einmal ganz allein mit Euch zu sein. Euch tut es gewiss auch sehr wohl, seine
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