Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
was ihm widerfahren war. Dagegen stach die bereits stark verkrustete Schramme auf der rechten Wange, die er dem Überfall im Wald der tanzenden Bäume zu verdanken hatte, regelrecht heraus. Sein Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich. Gelegentlich entfuhr den leicht geöffneten Lippen ein leiser Seufzer.
»Es ist so furchtbar«, hauchte Mathilda. »Noch steckt ein Funke Leben in ihm. Was aber ist das für ein Leben? Er muss Schreckliches ertragen. Sein Brustkorb ist zerquetscht, in seinem Leib ist nichts mehr, wie es sein sollte. Jeder Atemzug bereitet ihm die größte Qual. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Zusammen mit dem Wundarzt habe ich ihn gewaschen und ins Bett gelegt. Wir sollten Gott um Gnade anflehen, dass er ihn rasch von seinem Leiden erlöst.«
Mit dem Handrücken wischte sich Mathilda über die Stirn, legte die Hand einen Moment über die Augen, um sie kraftlos hinabsinken zu lassen.
»Was genau ist geschehen? Wieso er? Er hätte doch gar nicht auf der Baustelle sein sollen.« Dora wunderte sich, wie gefasst ihre Worte klangen. Eben noch war sie der nächsten Ohnmacht nahe gewesen, nun erfüllte eine kaum geahnte Kraft ihren Körper. Sie musste ganz für Urban da sein. Alles in ihr wehrte sich dagegen, ihn aufzugeben. Nicht ausgerechnet an dem Tag, an dem sie Gewissheit erlangt hatte, ein Kind von ihm im Leib zu tragen.
»Gottes Wege sind unerforschlich.« Umständlich schneuzte sich Mathilda die Nase, holte tief Luft und sagte mit gepresster Stimme: »Ausgerechnet drei Tage vor seinem fünfzigsten Geburtstag.«
Dora zuckte zusammen. Das war ihr völlig entfallen. Urban legte keinen Wert darauf, den Tag seiner Geburt und seines Schutzheiligen, nach dem er benannt war, zu feiern, am allerwenigsten in diesem Jahr. Fahrig kneteten ihre Finger den Stoff ihres Kleides. »Wer an einem Schwendtag geboren ist, dem scheint kein guter Stern über das Leben«, fuhr ihr ein Ausspruch Renatas durch den Sinn. Ob Urban deshalb so ungern an seinen Ehrentag erinnert wurde? Unsinn!, schalt sie sich sogleich. Stets war er auf vernunftgelenktes Handeln bedacht. Die alten Weisheiten und Überlieferungen lehnte er ab, betonte dagegen gern, wie wahr Luther sprach, wenn er dazu aufrief, allein dem Glauben an Gott zu vertrauen und sich nicht von überkommenem Aberglauben leiten zu lassen.
Die Base trat zum verhangenen Fenster. Mit dem Rücken zum Vorhang, die Hände rücklings auf das Sims gestützt, begann sie zu erzählen: »Veit Singeknecht hat ihn eigens aus der Rentkammer rufen lassen, wie Meister Miehlke berichtet. Offenbar wollte er ihm etwas auf der Baustelle zeigen oder vorführen. Genaueres wusste Miehlke leider nicht.«
»Was? Wieso hat ausgerechnet Singeknecht …« Verwirrt sah Dora zwischen dem weiterhin starr daliegenden Urban und seiner Base hin und her. Mathildas Worte entfachten ihren Unmut. Was erdreistete sich Veit? Zwar hatte Urban ihn ihr als Berater zur Seite gestellt, ihn gebeten, während ihrer Abwesenheit die Baustelle zu leiten, dennoch war nach wie vor sie die verantwortliche Baumeisterin. Demzufolge hätte allein ihr die Entscheidung zugestanden, wann der Bauherr sich laufende Arbeiten ansehen sollte oder nicht. Am Vortag aber war ihr gegenüber weder von Miehlkes noch von Veits Seite aus eine Andeutung gefallen, dass es etwa zu neuen Schwierigkeiten mit dem Fundament gekommen war. Hatte Veit nicht immer von Verzögerungen der dickeren Mauern wegen gesprochen? O Gott! Wenn Veit etwas an der Konstruktion geändert und Urban mit Bedacht … Nein, diesen Gedanken durfte sie nicht zu Ende denken. Seine Konsequenzen waren noch schlimmer als die Vorstellung, Gott habe sie mit dem Unglück strafen wollen. Voller Verzweiflung hing ihr Blick auf der Base.
Aufrecht wie eh und je hielt sich Mathilda, schaute ziellos nach vorn und sprach mit ausdrucksloser Stimme weiter. »Warum Urban zur Baustelle musste, das solltet Ihr mit Singeknecht selbst klären. Wie es aussieht, hat der Werkmeister noch so einiges Weitere zu erklären. Das Fundament hat wohl unter dem viel zu großen Gewicht der Stützmauer nachgegeben. Was das genau heißt, wird wohl untersucht werden. Zunächst aber zählt nur: Urban ist Singeknechts Aufforderung freudig gefolgt. Als Bauherr wollte er natürlich genauestens über den Fortgang der Arbeiten im Bilde sein. Aus diesem frommen Wunsch ist dann allerdings ein fürchterliches Unglück geworden.«
Die letzten Worte spie sie regelrecht aus, schlug die Hände vors Gesicht
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