Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Mathilda wurde noch bleicher, wollte etwas sagen, doch Dora schrie ungeachtet des Sterbenden im Bett plötzlich ihre gesamte Verzweiflung hinaus: »Haut endlich ab! Diese letzten Stunden gehören Urban und mir ganz allein.«
Ihre Unterlippe begann heftig zu beben, kaum gehorchten ihr die Knie. Unbeholfen wie ein frisch geborenes Lamm stakste sie zu dem Schemel, der neben dem Bett stand. Mathilda zögerte noch immer, die Schlafstube zu verlassen, doch Dora beschloss, sie keines Blickes mehr zu würdigen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte Urban. Das war das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte. Wie aus weiter Ferne hörte sie Mathilda laut schnaufen. Dann raschelte der Damast ihrer Kleidung, Schritte eilten über den Dielenboden. Endlich schloss sich die Tür hinter ihr. Urban und sie waren allein.
Dora beugte sich vor, tastete unter der Decke nach seiner rechten Hand und zog sie vorsichtig heraus. Sie fühlte sich eiskalt an. Doch auch ihre Hand strahlte keinerlei Wärme aus. Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen, hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange.
»Urban, Liebster, verzeiht mir, bitte! Das habe ich nicht gewollt. Wenn ich geahnt hätte, dass Ihr auf der Baustelle seid, wäre ich viel schneller dorthin gelaufen. Ach, Liebster!« Sie hielt inne, schluckte Tränen hinunter. »Lass uns noch einmal miteinander tanzen wie letztens im Wald der tanzenden Bäume. Siehst du diese wunderschönen Stämme aus dem Boden sprießen, eng ineinander verschlungen für alle Ewigkeit? Nur sie selbst hören die Musik, zu der sie sich bewegen. Komm, wir beide tun es ihnen nach und bleiben zusammen und tanzen bis in alle Ewigkeit.«
Die Innigkeit dieses letzten gemeinsamen Beisammenseins vor Augen, wechselte sie unwillkürlich ins vertrauliche Du, das Urban ihnen beiden zeit seines Lebens versagt hatte. Selbst in den traulichsten Momenten war er damit stets der entrückte herzogliche Kammerrat geblieben. Nun aber war die Zeit gekommen, diesen letzten Abstand zueinander endgültig zu überwinden. Was zählte, war allein ihre Liebe zueinander. Die zügellose Leidenschaft, die sie in den letzten Wochen miteinander erlebt hatten. Eine große Träne quoll ihr aus dem Auge, kullerte langsam die Wange hinunter. Behutsam bettete sie den Kopf auf Urbans Leib und lauschte dem kaum hörbaren Atem, der seiner schwer malträtierten Brust entstieg.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen und in der Erinnerung an jene rauschhaften Tage ihrer Reise nach Ragnit versunken war. Plastisch stand ihr der Wald der tanzenden Bäume vor Augen. Sie fühlte, wie Urban sie an der Hand genommen und umhergewirbelt hatte. Nie wieder würden sie jene starken Gefühle miteinander erleben, die ihnen seit Tapiau den besten Frühling ihres Lebens beschert hatten. Sie wischte sich die Wangen trocken, richtete sich auf. Etwas musste sie Urban noch sagen. Auch wenn er es kaum mehr wahrnehmen würde, so sollte er doch wissen, dass ihre Liebe endlich die lang ersehnten Früchte trug und sie gesegneten Leibes war.
»Urban, Liebster, wisst Ihr …«, setzte sie sanft an, um mit Erstaunen festzustellen, dass er die Augen aufschlug, das Gesicht langsam zur Seite neigte und sie mit erstaunlich klarem Blick ansah. Gebannt hielt sie den Atem an. In seinen blassblauen Augen blitzte etwas auf, das sie noch nie darin gesehen hatte. In den Tiefen des Blaus schimmerte wahre Freude. Ahnte er bereits, was sie zu sagen hatte? Erneut fasste sie nach seiner Hand, drückte sie überglücklich.
»Schweig still, mein Augenstern«, begann er mühsam zu reden, um dann noch einmal überraschend den Kopf aus den Kissen zu heben und erstaunlich klar zu sprechen. »Du musst es mir nicht erst sagen. Unsere Liebe lässt es mich lange schon spüren. Wir werden ein Kind haben.«
»Ja«, hauchte sie ergriffen und rang von neuem mit den Tränen. »Ja, mein Liebster, wir werden ein Kind miteinander haben.«
»Welch großes Glück.« Matt sank er zurück, schloss die Augen, schwieg. Kaum sichtbar hob und senkte sich sein Brustkorb.
Der Moment währte ewig. Sie fürchtete schon, das Reden habe ihn zu sehr angestrengt, die freudige Nachricht zu sehr erregt. Dann aber schlug er noch einmal seine Augen auf, betrachtete sie wieder. Dieses Mal war das Blau darin bereits deutlich verschwommen. Glanz und Tiefe fehlten ihm.
»Trotzdem muss ich gehen. Die Pflicht ruft mich fort von dir, fort aus meiner fränkischen Heimat. Doch auch im fernen Preußen werde ich immer an dich
Weitere Kostenlose Bücher