Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
und Fialen sowie all den unterschiedlichen Fensterformen und -reihen eher düster-bedrohlich denn erhaben-majestätisch wie an anderen Tagen. Eindeutig fehlte das Sonnenlicht, das sonst um diese Stunde schimmernde Akzente auf das triste Gestein zauberte. Aus dem Graben stieg muffiger Geruch empor. Die gut gemästeten Schweine waren über und über mit Dreck verschmiert, ihre Suhlstellen ausgetrocknet. Dora beeilte sich, rasch in die Junkergasse zu gelangen. Dort hoffte sie auf weitaus bessere Luft.
Tief atmete sie durch, als sie die ersten Häuser der Straße erreichte, die nördlich der Schlossanlage auf der Burgfreiheit zum Schlossgarten hinüberführte. Auch an diesem grauen Maitag kündeten die Fassaden rechts und links nicht minder prächtig als in sonnigen Zeiten von der herausgehobenen Stellung ihrer Bewohner. Bald würden auch Urban und sie hier wohnen. Damit hatte Urban sein lang ersehntes Ziel erreicht, wenn er auch erst ganz am Ende der eindrucksvollen Gebäudereihe ansässig wurde. Ob tatsächlich Hausvogt Göllner seine Finger dabei im Spiel gehabt hatte, dass er nur so weit hinten zum Zuge kam? Sie stockte. Wieso, fragte sie sich, hatte letztens ausgerechnet Veit danach gefragt? Kannte er Göllner etwa und wusste gar über die Zwistigkeiten zwischen Urban und ihm Bescheid? Darüber sollte sie nicht länger grübeln. Was zählte, war allein, dass Urban endlich das Grundstück erhalten hatte und die Schwierigkeiten mit dem feuchten Grund ausgeräumt waren.
Ein dumpfes Dröhnen erschütterte die Gegend, anschwellendes Grollen folgte. Die Erde erzitterte. Aufgeregt stieß eine Schar Sperlinge in die Luft, kreiste oberhalb der Dächer und Zinnen, um schließlich Richtung Schlossteich zu ziehen. Offenbar war beim Haberturm von neuem einer der riesigen Steinquader für die Ausbesserung der Mauer zu Bruch gegangen. Oder braute sich im Westen gar ein erstes Frühlingsgewitter zusammen? Dora zog den Goller enger um die Brust, prüfte den Sitz der Bundhaube und blinzelte in den Himmel. Das helle Grau war undurchdringlich wie ehedem, Regen weit entfernt. Doch das konnte sich binnen weniger Augenblicke ändern. Sie sollte sich sputen. Auf der Baustelle war es bei Regen äußerst ungemütlich, fehlte es doch an ausreichenden Unterstellmöglichkeiten. Sobald die Gewölbedecke im Keller geschlossen war, würde sich das ändern. Wenn Veit recht hatte, dauerte es bis dahin nicht mehr lang.
Sie lief weiter. Mit jedem Schritt wuchs ihre Spannung, wie weit der Bau gediehen war. Eine dicke Staubwolke hing in der Luft, ließ baldigen Regen herbeisehnen, um das Atmen zu erleichtern. Je näher sie Urbans Hofstelle kam, je stiller wurde es. Selbst die Vögel hatten sich verkrochen, ihr Zwitschern eingestellt. Über all dem Grübeln und Bestaunen, was sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte, wurde sie dessen erst sehr spät gewahr, ebenso, dass die Staubwolke immer dichter geworden war.
Endlich erreichte sie das Ende der Junkergasse. Wie selbstverständlich öffneten die Handwerker und Tagelöhner einen Durchgang für sie, ließen sie schweigend passieren. Verwundert blieb sie stehen, sah die Reihen der kräftigen Knechte entlang. Alle senkten das Antlitz, niemand sah ihr offen entgegen. Das machte sie misstrauisch. Langsam drehte sie den Kopf, stutzte. Konnte sie ihren Augen trauen?
In raschen Schritten eilte sie zur Mitte der Baustelle, wo das Loch des Kelleraushubs klaffte. Wieso immer noch ein Loch? Ihr wurde flau. Vorsichtig ging sie weiter, senkte den Blick. Was sie unten im Aushub erspähte, raubte ihr den Atem. Eine der Stützmauern war eingestürzt! Lediglich einige wenige Steine erinnerten noch an ihren geplanten Verlauf. Grauer Mörtel bedeckte den Schutt wie eine dicke Ascheschicht. Erst emsiges Kratzen und Scharren machte Dora auf eine Handvoll Männer aufmerksam, die im hinteren Teil der Baustelle halb in der Erde versanken und dort wie besessen gruben, um mit bloßen Händen Steine wegzuräumen.
Fassungslos starrte sie auf das Geschehen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff. »Wo ist mein Bruder? Und Veit Singeknecht?«
Bei den letzten Silben versagte ihr die Stimme. Sie wollte ihre Befürchtung nicht zu Ende denken. Ein Schmerz fuhr ihr durch den Leib. Sie presste die Hand dagegen.
»Setzt Euch«, drang aus weiter Ferne die Stimme von Steinmetzmeister Miehlke an ihr Ohr. Behutsam fasste er sie am Arm, führte sie zu einem umgedrehten Fass, das er eigens für sie herrichtete. Bevor er sie
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