Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
hegt, liebe Mathilda. Gern würde ich hierbleiben, um Euch beizustehen, bis es Euch bessergeht, aber leider muss ich fort. Steinhaus wartet sicherlich schon. Übrigens«, sie legte eine kurze Pause ein, musterte die Base noch einmal, »ich reise nach Krakau, um den alten Veit Singeknecht zu sprechen. Er hat mir einiges über Urbans Nürnberger Jahre zu berichten. Dank eines Briefes an meinen Bruder habe ich von seinem derzeitigen Aufenthalt an der Weichsel erfahren. Es tut mir sehr leid, Eure Erwartungen enttäuschen zu müssen.«
Mathildas Gesicht verfärbte sich tiefrot vor Zorn. Hörbar schnappte sie nach Luft. Dora packte ihr Felleisen und verließ die Werkstatt.
Erst auf der Treppe wurde sie gewahr, wie sehr sie am ganzen Leib bebte. Mathildas Unterstellung war hanebüchen, weniger, weil sie ihr solches auf den Kopf zusagte, viel schlimmer war, dass Dora tief in ihrem Inneren schwante, wie nah die Base der Wahrheit gekommen war.
Eine Tür schlug zu, eilige Schritte erklangen. Dora schloss die Augen, sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dann öffnete sie die Lider und drehte sich langsam um. Zwei Treppen über ihr zeichnete sich Mathildas dunkle Gestalt im schummrigen Licht ab. Selbst ohne ihre Gesichtszüge zu erkennen, wusste Dora, wie die Base in diesem Augenblick aussah.
»Um meinetwegen müsst Ihr Euch keine Sorgen machen. Wir werden uns die nächsten Monate nicht aus den Augen verlieren.«
»Wie das?« Kaum ausgesprochen, ahnte Dora die Antwort.
»Ich komme mit«, erklärte Mathilda.
»Wie schön.« Doras Hand tastete nach dem Treppengeländer, klammerte sich daran fest, bis ihr die Knöchel schmerzten.
»Es ist das Beste für uns alle«, fügte die Base hinzu. »Steinhaus wird es sehr erleichtern. So seid Ihr nicht die einzige Frau im Tross. Es war einfach ungehörig von Euch, allein reisen zu wollen. Das schickt sich nicht für die Witwe des herzoglichen Kammerrats. Zudem freue ich mich auf ein Wiedersehen mit dem alten Singeknecht. Er war ein sehr guter Freund meines Vaters.«
Das Zittern in Doras Leib verstärkte sich von neuem. Dennoch zwang sie sich zu einem Nicken, drehte sich wieder um und stieg langsam die Treppe nach unten. Mathilda entschwand nach oben, um ihre Sachen zu packen.
Dora fühlte sich hilflos. Widerspruch wäre zwecklos gewesen. Manchmal, so tröstete sie sich, musste man das Leben einfach nehmen, wie es kam. Irgendwann würde sich zeigen, warum sich das eine so und das andere anders gefügt hatte. Ein tieferer Sinn steckte schließlich in allem.
6
M itten in der Unterhaltung wurde Dora plötzlich still, richtete den Blick fasziniert durch das kleine Fenster, das die Wagenplane nach vorn an der Schulter des Fuhrmanns vorbei öffnete. Wie oft hatte sie sich in den letzten Jahren diesen Anblick in Gedanken ausgemalt, hatte wieder und wieder nachgelesen, was Urahn Laurenz Selege dazu schrieb, hatte seine detailgetreuen Zeichnungen so oft betrachtet, dass sie zuletzt bereits fürchtete, sie verblassten allein schon ob des vielen Anschauens. Veit Singeknechts schwärmerische Schilderungen hatten schließlich ein Übriges dazu beigetragen, ihre Vorstellungen so weit auszuschmücken, bis sie irgendwann meinte die Marienburg bis in jeden einzelnen Backstein hinein zu kennen, ohne überhaupt je einen Fuß dorthin gesetzt zu haben. Dennoch überwältigte sie das Schauspiel dort im Westen nun vollends. Stocksteif saß sie da, konnte nur noch starren und staunen, völlig unfähig, je wieder damit aufzuhören. Veit hatte recht gehabt, das Studieren von Büchern konnte das wahrhaftige Schauen nicht ersetzen. Erst dabei erfasste man mit allen Sinnen, was das Besondere eines Baus ausmachte.
Die Reisegefährten mussten ihre besondere Stimmung ahnen. Teilnahmsvoll verstummten auch sie, um ihr die Ruhe zu schenken, das gewaltige Bild andächtig in sich aufzusaugen. Lediglich Mathilda, ihr schräg gegenüber, entfuhr einmal mehr ein abschätziges Schnaufen. Dora kümmerte das nicht. Sie hatte die Base nicht gebeten, sie zu begleiten. Dennoch ließ Mathilda seit Anbruch der Reise vor fünf Tagen kaum eine Gelegenheit aus, ihr Verhalten zu missbilligen. Längst schenkte Dora ihr nur noch die notwendigste Beachtung.
Im Licht der Abendsonne entfaltete die Marienburg ihren kolossalen Zauber. Das satte Rot der trutzigen Backsteinmauern und Türme verschmolz mit dem warmen Gelbrot des sinkenden Sonnenballs zu einem stimmigen Farbenspiel, wie Dora es bislang nie gesehen hatte. Weit strahlte dieses
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