Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
besondere Gemisch in die Ebene aus, die vom sommerlichen Grün der Felder bis hinauf in das abendliche Glühen des Firmaments reichte. Mehr als einmal schimmerte darin Bernstein auf. Es war, als dränge das Gold der Ostsee bis in höchste Himmelssphären.
Noch beeindruckender als diese Farbenpracht erschienen Dora alsbald die Ausmaße der ehemaligen Ordensburg, die sich seit gut einhundert Jahren im Besitz der polnischen Krone befand. Dass die Könige aus dem Haus der Jagiellonen die Residenz nur selten aufsuchten, und wenn, dann lediglich den alle Mauern und Zinnen überragenden Hochmeisterpalast bewohnten, war der Anlage schon von weitem anzusehen. Das noch unter dem ordensritterlichen Heerführer und späteren Hochmeister Heinrich Reuß von Plauen angelegte Bollwerk, bei dessen Bau Urahn Laurenz mit seinem Danziger Meister Jagusch beteiligt gewesen war, wies mittlerweile deutliche Lücken auf.
Hoch- und Mittelschloss dienten als Sitz der polnischen Verwaltung Preußens Königlichen Anteils, wie Veit Dora einmal erklärt hatte. Neben dem Starost und dem ihm unterstellten Burggrafen bewohnten der Schatzmeister der Provinz sowie der Marienburger Woiwode mitsamt ihrem Gefolge die Gebäude. Auf dem übrigen Burggelände wie in der Vorburg siedelten neben den einquartierten Burgmannschaften längst auch zahlreiche Handwerker und Kaufleute mit ihren Familien. Die umliegenden Wiesen dienten als Weide- und Ackerflächen, galt das Nogatdelta doch als sehr fruchtbares Land. So herrschte rund um die Burganlage ein munteres Getümmel, zumal der anbrechende Abend die Hütejungen gerade das Vieh sammeln und ins Innere der früheren Wehranlage treiben ließ. Dazwischen vollführten Gaukler ihre Kunststücke, priesen Höker und andere fliegende Händler ihre Waren an, gingen Schmiede, Zimmerer und Fassbinder ihrem Handwerk nach. Dora beobachtete das mit großem Bedauern. Der ehemals stolze Sitz des Hochmeisters glich inzwischen eher einer dörflichen Erweiterung der sich südlich daran anschließenden Stadt denn einer trutzigen Wehranlage wie noch zu Laurenz Seleges Zeiten.
Dennoch aber waren die gewaltigen Ausmaße und der jedem einzelnen Gebäude innewohnende Anspruch der Erhabenheit nach wie vor gut zu erkennen. Voller Ehrfurcht schaute Dora an den Zinnen entlang, schätzte die genauen Längen ab und malte sich aus, welche Pracht sich erst im Innern der Gebäude finden musste. Ausgerechnet Veit, der sonst nie um einen Ausdruck verlegen war, hatte bei seiner Beschreibung verzweifelt nach Worten gerungen, um den Großen Remter im Nogatflügel an der Nordwestseite auch nur annähernd angemessen zu schildern. Der doppelschiffige Saal musste nicht nur aufgrund der filigranen Sterngewölbe atemberaubend sein. Zudem verfügte er unter dem mosaikgeschmückten Fußboden über eine so ausgefeilte Feueranlage, dass damit der gesamte Raum im Winter beheizt werden konnte. Nicht minder faszinierend aber sollte auch der Sommerremter sein, dessen Sterngewölbe auf einer einzigen schlichten Granitsäule ruhte. Die zweigeschossigen Fensterreihen erlaubten eine wahre Lichtflut, die dem quadratisch angelegten Raum eine ganz besondere Wirkung verleihen musste. Dora sehnte sich danach, diese Wunderwerke mit eigenen Augen zu bestaunen. Leider war das undenkbar. Veit Singeknecht hatte es allein einem Zufall zu verdanken gehabt, das Innere des Hochmeisterpalastes betreten zu dürfen.
»Es ist schon ein berauschendes Erlebnis, dieses Schloss zum ersten Mal vor Augen zu haben«, meldete sich Polyphemus mitten in ihre Gedanken zu Wort.
»Wie kann der Anblick einer Burg berauschend sein?« Voller Unverständnis kniff Mathilda die Lippen zusammen und schenkte Polyphemus, der zu ihrer Linken saß, einen tadelnden Blick. »Es handelt sich lediglich um Ziegelsteine, die fleißige Hände auf Anweisung ihres Meisters aufeinandergestapelt haben. Nur weil es im Fall der Marienburg einige mehr waren als anderswo, hat sie diese großen Ausmaße angenommen. Berauschend aber ist nichts daran. Lediglich dem unermesslichen Fleiß der Handwerker gebührt grenzenlose Achtung.«
»Mit Verlaub, meine Liebe«, wandte Polyphemus sich mit einem breiten Schmunzeln seiner Sitznachbarin zu, »im Fall der Marienburg handelt es sich um weitaus mehr als um einige ansehnliche Haufen Steine, die fleißige Maurerknechte auf Befehl aufeinandergestapelt haben. Gönnt Euch einmal einen ausführlichen Blick nach draußen, dann werdet selbst Ihr von der erhabenen Pracht begeistert
Weitere Kostenlose Bücher