Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Erbe der Väter, wenn er es nicht mit Leben zu füllen versteht? Bis heute sehe ich noch vor mir, mit welch verständnislosem Blick Wenzel einen Aufriss betrachtete. Es fehlte ihm einfach die Fähigkeit, sich daraus das fertige Bauwerk vorzustellen. Als er das nach zähem Ringen endlich einigermaßen beherrscht hatte, tat er sich weiterhin schwer, eigene Entwürfe anzufertigen, eigene Vorstellungen für neue Bauten zu entwickeln. Kaum gelang es ihm, bereits vorgegebene Pläne sinnvoll fortzuführen. Nächtelang versuchte ich ihn darin zu schulen, ihm die nötigen Kniffe beizubringen. Fürs Bierbrauen aber musste er sich nie sonderlich anstrengen. Da schmeckte er gleich heraus, wenn ein Brauer das falsche Wasser oder zu viel Hopfen verwendete oder gar das Getreide zuvor verkehrt gedarrt hatte. Stets machte er sich neue Gedanken, wie ein Brauer sein Brau verbessern oder andere Wege beschreiten konnte, um das Bier an den Mann zu bringen. Hörte ein Brauer auf ihn, musste er sich keinerlei Sorgen mehr um sein Bier machen. Wenzel wusste stets einen Rat, der ihm half, noch den letzten Tropfen gut loszuwerden.«
Mathilda meinte ihren Ohren nicht zu trauen. Sprach Jagusch tatsächlich von Wenzel Selege? Das widersprach so ganz und gar dem Mann, den sie in Königsberg kennengelernt hatte. Wie abschätzig hatte er sich oft über das Brauen geäußert. Und nun das!
»Wenn ich Eure Schilderung höre, so kommt es mir vor, als würdet Ihr nicht von Wenzel, sondern von seinem ältesten Sohn Jörg sprechen«, entschlüpfte ihr laut ein Gedanke, der ihr gerade gekommen war. Auf einmal musste das heraus. »Doras Bruder hat schon mehr als einmal einen besonderen Sinn für die Braukunst bewiesen. Gerade hat er durchgesetzt, dass der Neubau des Anwesens der Seleges ein eigenes Sudhaus im Hof sowie ein geräumiges Bierlager im Keller erhält. Seine Gemahlin, die er aus Nürnberg mitgebracht hat, ist eine hervorragende Brauerin. Sie versteht es, das Brauchtum aus ihrer Nürnberger Heimat mit demjenigen aus Königsberg zu verbinden. Es gibt ein altes Buch der Agnes Selege, die seinerzeit ihre Art zu brauen für ihre Nachkommen aufs genaueste aufgeschrieben hat. Für Gret und Jörg ist das ein wahrer Schatz. Es sieht so aus, als hätte Jörg in seiner Nürnberger Zeit mehr über das Brauen als über das Bauen gelernt. Ein Jammer, wie ungern sein Vater Wenzel das hört. Nach Euren Worten müsste ihm darüber eigentlich das Herz aufgehen. Wie kann er sich selbst nur so verleugnen?«
Sie konnte selbst kaum fassen, sich derart begeistert über Jörg und Gret und ihre Brauereipläne reden zu hören. In Königsberg hatte sie immer so getan, als interessierte sie das alles nicht. In Wahrheit aber nahm sie wohl weitaus mehr Anteil am Geschehen in der Domgasse, als sie sich bislang selbst zugestehen wollte. Vor allem auch an Wenzel und seiner Weigerung, die Begeisterung der beiden wahrhaben zu wollen.
Jagusch fasste ihre Äußerung ganz anders auf. Seine Stimme wurde leise, eindringlich suchte er Mathildas Blick. »Eure Worte über Wenzels Verhalten beweisen mir noch etwas ganz anderes.«
Errötend wandte sie sich hastig ab. Dass ausgerechnet ein Fremder wie Jagusch bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen vermochte! Es war nicht das erste Mal, das ihr das widerfuhr. Die Erinnerung an eine mehr als zwei Jahre zurückliegende Begegnung drängte sich ihr auf. Damals hatte Gret ihr auf dem Rückweg vom Löbenichter Tollhaus aufgelauert und sie in dreister Weise auf ihren Schwäher angesprochen. Gerade als sie sich den Zwist wieder genauer ins Gedächtnis rufen wollte, schob sich noch eine andere Gestalt in ihr Gedächtnis – die Gasthausmagd. War ihr bei ihrem Anblick nicht noch etwas über ihr Schicksal klargeworden? Es konnte kein Zufall mehr sein, dass sie das alles an diesem Morgen begriff. Ihr schauderte.
»Ihr müsst mir etwas versprechen«, meldete sich Meister Jagusch wieder und fasste sie an den Händen. »Ihr seid wohl die Einzige, die bei Wenzel Selege etwas auszurichten vermag. Erinnert ihn an das, was ich Euch vorhin erzählt habe. Er muss endlich begreifen, wie es um ihn und wohl auch um seinen ältesten Sohn steht. Ebenso soll er seine Tochter ermutigen, die bösen Schatten der Vergangenheit abzustreifen und sich wieder ihrer eigentlichen Leidenschaft zuzuwenden. Wenn Gott einem eine besondere Gabe verliehen hat, wäre es eine Sünde, sie nicht zu nutzen. Auch wenn es manchmal auf den ersten Blick unmöglich erscheint, so wird
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