Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
den Wangen und griff nach dem Becher, den die Magd ihm soeben gefüllt hatte. Gierig stürzte er das Bier in einem Zug hinunter, leckte den Schaum von den Lippen und machte sich hungrig über Schinken, Käse und Brot her. Dora wunderte sich nur kurz über den großen Appetit, der ihn zu dieser frühen Stunde bereits zu einem üppigen Mahl greifen ließ. Sie selbst fühlte sich noch außerstande, etwas zu sich zu nehmen, und bat die Magd lediglich um einen Becher Bier.
»Was haltet Ihr von einem kurzen Gang durch die Stadt?«, schlug Polyphemus vor, als er die letzte Brotkrume verdrückt hatte. »Eurem sehnsüchtigen Blick auf Häuser, Kirchen und Mauern bei unserer Ankunft gestern war unschwer zu entnehmen, wie sehr es Euch danach verlangt, ein wenig mehr von Thorn zu sehen. Bis Steinhaus und die anderen sich erhoben und ihren ersten Imbiss zu sich genommen haben, bleibt ausreichend Zeit für einen Spaziergang. Der Nachtwächter wird uns verzeihen, wenn wir im Schutz der letzten Dämmerung wie zwei räudige Katzen durch die Gassen schleichen.«
Nur zu gern nahm sie das Angebot an. Die Magd schenkte ihnen einen fragwürdigen Blick, als sie das Gasthaus Arm in Arm verließen. Polyphemus trug ihr auf, Steinhaus von ihrem Vorhaben zu unterrichten. Dora bezweifelte, dass die Frau das begriff.
Sobald sie auf dem Markt stand, vergaß sie jegliche Gedanken an die Magd, Steinhaus und die Reisegesellschaft. Selbst das Sehnen nach Johanna erlosch für eine Weile. Zu erhaben war der Anblick, der sich ihren Augen bot. Das vierstöckige Kaufhaus inmitten des Altstädter Marktes schälte sich mit seinem roten Backstein mühsam aus den letzten Resten der Nacht. Selbstbewusst schob sich die Spitze des nahegelegenen Rathausturmes in den schwarzgrau gesprenkelten Morgenhimmel. Obenauf blitzte die kupferne Wetterfahne im ersten Strahl des Tageslichts und tat, als wollte sie helle Wolkenschlieren aufspießen. Unheimliche Schatten belagerten dagegen noch die an das Kaufhaus angebaute Waage. Auch die Krame sowie die Brot- und Fleischbänke verhüllte die vom Boden nur träge weichende Düsternis noch nahezu vollständig.
Dora erschrak, als wie aus dem Nichts der Nachtwächter mit seiner Fackel und der drohend erhobenen Pike vor ihnen auftauchte. Sein wallender Umhang sowie die tief ins Gesicht gezogene Kapuze verlieh ihm das Aussehen eines schwarzen Gespenstes. Polyphemus winkte ihm grüßend zu. Der Nachtwächter schwang die Fackel herum, leuchtete ihnen in die Gesichter und setzte dann, beruhigt von ihrem harmlosen Aussehen, seinen Weg in die nächste Gasse fort.
»Nachtwächter sind zwielichtige Gesellen«, bemerkte der Bibliothekar. »Wie sonst können sie es ertragen, Nacht für Nacht umherzuziehen und den wohlverdienten Schlaf ihrer Mitbürger zu bewachen, ohne sich selbst Ruhe zu gönnen?«
»Seltsam, dass ausgerechnet Ihr das sagt. Dabei gönnt auch Ihr Euch doch nur wenig Schlaf. Als ich vorhin in die Gaststube kam, hatte ich den Eindruck, Ihr hättet die ganze Nacht über Eurem Buch verbracht. Lesen scheint Euch wichtiger als Schlafen.«
»Zum Schlafen sind mir die ruhigen Nachtstunden zu schade. Wenn alle schlafen, kann man so manches Neue als Erster entdecken. Gerade die herzogliche Bibliothek auf dem Königsberger Schloss hält einige Schätze bereit, die es zu heben lohnt.« Er lächelte seltsam. Oder war es die langsam schwindende Dämmerung, die das Lächeln auf seinem gutmütigen Antlitz derart zwielichtig erscheinen ließ? »Mir scheint, auch Ihr frönt gelegentlich dieser Leidenschaft und nutzt die ruhigen Nachtstunden zur Lektüre, Stöckelin. Das Werkmeisterbuch Eures verehrten Ahns Laurenz wird Euch allerdings kaum genügen, um Euer gewaltiges Wissen über das Bauen sowie die prächtigen Bauwerke des Herzogtums stetig zu vergrößern. Gewiss habt Ihr noch so manch anderes Buch studiert, mit dem Euch Euer verstorbener Gemahl zu Lebzeiten gut versorgt hat. Auch er wusste schließlich das gedruckte Wort sehr zu schätzen. Und nicht nur das gedruckte Wort.« Wieder hielt er inne, lächelte dieses eigenartige Lächeln, das Dora immer unheimlicher wurde. Doch auch dieses Mal ließ er ihr wenig Zeit, sich darüber zu wundern, sondern redete gleich weiter: »Hier im Gasthaus, fern all der noch zu hebenden Schätze der Schlossbibliothek, habe ich das Nachtlager allerdings aus ganz naheliegenden Gründen gemieden: In der engen Kammer, Seite an Seite mit dem schnarchenden Steinhaus und dem unruhig sich wälzenden Pfarrer
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