Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Schatten. Beim Näherkommen zeichneten sich die Umrisse eines Mannes mittleren Alters ab, dessen markantestes Merkmal das düster umschattete Gesicht mit einer halben Handvoll Warzen auf der linken Wange war. Hilflos gestikulierte Elßlin hinter ihm. Mit weit aufgerissenen Augen eilte er auf Gret zu. Sie erkannte schnell, wen sie vor sich hatte – Egbert Göllner, seines Zeichens Hausvogt am herzoglichen Schloss. Oft schon hatte sie ihn im Schloss aus der Ferne erspäht. Neugierig, wieso er bei dem Unwetter in Doras Haus am Mühlenberg kam und wie lange er sie wohl noch für ihre Schwägerin hielt, schaute sie ihm entgegen. Als sie sich dabei ein wenig mehr ins hellere Licht drehte und dabei der Ansatz ihres honigblonden Haares aufleuchtete, begriff er.
»Oh, verzeiht, da bin ich wohl einer Verwechslung aufgesessen«, stammelte er. »Ich dachte gerade tatsächlich, Ihr seid Dora Stöckelin. Dabei habe ich vorhin auf dem Schloss erfahren, dass sie vor fast drei Wochen aus Königsberg aufgebrochen ist. Ich wollte es nicht glauben. Deshalb bin ich hier. Wer aber seid Ihr? Und warum seht Ihr der Witwe unseres ehrwürdigen Kammerrats zum Verwechseln ähnlich?«
Statt ihm zu antworten, musterte Gret ihn genauer. Sein fliederfarbener Rock blieb auch im helleren Licht des hinteren Flurs merkwürdig fahl. Dafür gewann sein sorgfältig auf Kinnlänge gestutztes kupferbraunes Haar an Leuchtkraft. Es wirkte wie ein Helm auf dem eiförmigen Kopf. In der linken Hand zerdrückte er sein regennasses Barett. Die Beinkleider wie die Schuhe zeigten ebenfalls deutliche Spuren des Unwetters. Um seine Schultern aber musste er einen dicken Umhang getragen haben, der seinen Faltrock gut vor der Nässe geschützt hatte. Kaum fanden sich Spuren von Feuchtigkeit auf dem Stoff.
Unverwandt sah auch er sie schweigend an. Sein Blick ging ihr durch Mark und Bein. Die dunklen Augen bohrten sich förmlich in sie hinein. Zugleich schreckte sie das Harte, Unversöhnliche, das sein Antlitz kennzeichnete. Mit einem wie ihm war nicht gut Kirschen essen. Trotzdem aber war da noch etwas anderes, erst auf den zweiten oder dritten Blick hin Erkennbares, das sie anzog wie ein Magnet. Schwer nur konnte sie sich dem entziehen.
»Was kann ich für Euch tun?« Sie machte keine Anstalten, ihn in die Stube zu bitten. Im Schloss hatte sie genug über ihn gehört, dass ihr gleich schwante, wie wenig Gutes sein Auftauchen in Doras Haus verhieß. Noch dazu, da er offen zugab, von Doras Abwesenheit zu wissen. Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu. Er war nur etwa eine Handbreit größer als sie, dennoch straffte sie unwillkürlich den Rücken, um sich nicht klein gegen ihn zu fühlen.
»Ihr hütet also das Haus, während die Stöckelin verreist ist. Wann ist mit ihrer Rückkehr zu rechnen?«, überging er ihre Frage.
»Sicher nicht vor dem Herbst«, entgegnete sie und ärgerte sich im nächsten Atemzug, so vorschnell geantwortet zu haben. Ein kaum sichtbares Zucken um Göllners Augenpartie ließ sie aufmerken.
»So lange kann ich nicht warten«, erklärte er und schaute sich um. Sämtliche Türen waren verschlossen, lediglich durch das Fenster am Flurende fiel Licht. »Erlaubt, dass ich nach oben in die frühere Studierstube von Urban Stöckel gehe und dort nach etwas suche. Es geht um Schriften aus dem herzoglichen Schloss.«
»Meiner Schwägerin wäre das wohl kaum recht. Kommt bitte nach ihrer Rückkehr wieder. Ohnehin müssten seit dem Tod ihres Gemahls alle Unterlagen gesichtet sein. Ihr selbst habt ihr doch die Kisten aus dem Schloss gebracht. Was also sollte dort oben noch zu finden sein, was Ihr gewiss nicht längst schon in Händen hattet?«
»Es handelt sich um sehr wichtige, geheime Schriftstücke, von denen ich ganz sicher weiß, dass sie sich oben in der Studierstube des Verstorbenen befinden. Ich habe sie dortgelassen, weil mir das sicherer schien als im Schloss. Mehr kann ich Euch dazu leider nicht sagen.«
Göllner wurde ungeduldig. Schon machte er auf dem Absatz kehrt, rannte zur Treppe und stieß Elßlin rücksichtslos beiseite. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er nach oben. Erst da erwachte Gret aus ihrer Starre. Laut schreiend rannte sie ihm hinterher. »Was fällt Euch ein? Bleibt stehen! Sofort!«
Endlich trauten sich auch Katharina König und Renata aus der Küche. Ohne nach den genaueren Umständen zu fragen, stürmten sie ebenfalls ins zweite Obergeschoss hinauf.
Die Tür zu Urbans früherer Studierstube am Ende des Flurs
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