Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
Jede einzelne Figur besaß ein unverkennbares Eigenleben, egal, ob sie eine Heilige oder eine Gestalt am Rand darstellte. Das Besondere des Altars lag in der außergewöhnlichen Liebe zur Ausgestaltung selbst der kleinsten Nebensächlichkeiten. Dadurch wurde den Bildnissen wahrer Odem eingehaucht. Kaum mochte Dora fassen, dass eine solche Kunst durch Menschenhand möglich war. Eine göttliche Schöpferkraft sprach aus ihr. Vor Andacht und Bewunderung versank sie in der harten Kirchenbank, fühlte sich unfähig, sich jemals selbst wieder an einen Entwurf zu wagen. Sogar der Plan für das einfachste Haus würde ihr wohl kaum mehr gelingen, würde sie künftig doch stets diesen einzigartigen Altar vor Augen haben, der ihr zeigte, zu was wahre Meisterschaft fähig war.
Von den bildgewaltigen Szenen wurden ihre Augen müde. Sie richtete den Blick nach oben, auf die Spitze des Altars. Umringt von mehreren überlebensgroßen, ganz von Gold überzogenen Figuren, vollzog sich dort die Krönung der Muttergottes. Dora legte den Kopf noch weiter in den Nacken, saugte sich mit dem Blick an dem Kreuzrippengewölbe fest. Fast meinte sie, die Flächen zwischen den Gewölberippen und Gurten schimmerten himmelblau, goldene Sterne funkelten darauf, derart zog es sie nach oben, in die Unendlichkeit des Firmaments hinein. Selbst im grauen Licht des trüben Siebenschläftertages büßte es nicht das Geringste von seiner Pracht ein. Doras Augen wanderten weiter, schweiften über die nicht minder beeindruckenden Seitenaltäre zum steinernen Kruzifix rechts vor dem Chor. Auch diese Christusfigur hatte der Nürnberger Veit Stoß in seinem fast zwanzig Jahre dauernden Aufenthalt in Krakau erschaffen. Wieder fühlte sich Dora unsäglich klein und bedeutungslos. Nicht allein die schiere Größe der Figuren und die Ausmaße des Altars bewirkten das, auch die Kraft, die sie ausstrahlten, ließ sie zu einer Zwergin schrumpfen. Welche Leidenschaft hatte einen Mann wie Veit Stoß zu solch übermenschlichen Leistungen befähigt?
Sie tastete nach dem Felleisen in ihrem Schoß, fuhr mit den Fingern über den abgeschabten Ledereinband des Werkmeisterbuchs von Laurenz Selege. Über Jahre hatte sie die Aufzeichnungen ihres Urahns über Bauten und Kunstwerke Silbe für Silbe studiert, jeden einzelnen Strich seiner Zeichnungen aufgeregt verfolgt. Auf der vierwöchigen Reise von Königsberg nach Krakau hatte sie so manches der von ihm beschriebenen Bauwerke ehrfürchtig mit eigenen Augen betrachtet. Dachte sie an die Marienburg, Marienwerder oder gar Thorn, wäre sie gestern noch in begeisterte Lobpreisungen ausgebrochen. Auf einmal aber schien ihr das alles leer und fahl. Angesichts des seit ihrer Ankunft am Vorabend in Krakau Gesehenem hätte sie die einzelnen Seiten aus dem Buch zerreißen mögen, so unbeholfen und plump erschien ihr das darauf Gezeigte auf einmal.
Sie erschrak über sich selbst. Es stand ihr nicht an, derart hart mit Urahn Laurenz ins Gericht zu gehen. Nie war er in Krakau gewesen, hatte überhaupt nie das preußische Ordensland verlassen. Woher also hätte er Vergleichbares wie in Krakau je vor Augen haben sollen? Noch dazu, wo Meister wie Veit Stoß mehr als ein Menschenalter nach ihm gewirkt und unter ganz anderen Vorgaben im Umfeld des polnischen Königshofs ihre Werke hatten schaffen dürfen. Dennoch verlief ein tiefer Graben zwischen dem, was sie bislang von Laurenz gelernt und in ihrer Heimat gesehen hatte, und dem, was sich ihr in Krakau an neuen Eindrücken bot. Was gäbe sie darum, Polyphemus in diesem Moment neben sich zu haben, um mit ihm darüber zu reden.
Ihre Wangen glühten, und das nicht allein vor Eifer. Wenn sie ehrlich zu sich war, war da noch jemand anderer, mit dem sie sich brennend gern über ihre jüngsten Eindrücke austauschen würde. War nicht das, was sie gerade bei der Betrachtung des Marienaltars empfand, genau das, was Veit Singeknecht einst gemeint hatte, als er ihr gegenüber die hohle Büchergelehrsamkeit angeprangert hatte? Endlich erfasste sie, was er damit hatte sagen wollen. Wer seine Stadt verließ und zu reisen begann, sich offen zeigte für das, was ihm unterwegs begegnete, der lernte weitaus mehr, als ihn sämtliche Bücher der größten Bibliotheken auf der Welt lehren konnten. Doch nicht nur das. Er lernte vor allem anderes, Unverhofftes kennen, wonach er in der Bibliothek und den Büchern niemals gesucht hätte. Das war genau der Unterschied zwischen dem Halten der Asche und dem Weitergeben
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