Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
gar nicht gewusst, wohin die Stöckelin unterwegs ist.«
»Noch schlimmer«, ergänzte Gret mit vor Furcht stark belegter Stimme, »jetzt weiß er auch, dass sie die von ihm so dringend gesuchten Papiere mit dabeihaben muss. Um was auch immer es sich handeln mag, ich fürchte, ein Mann wie Göllner ist zu allem fähig, um sie an sich zu bringen.«
Der Gedanke flößte ihr einen eiskalten Schauer ein. Dagegen war das Frieren in den regennassen Kleidern vorhin nichts gewesen. Wieder rumorte es in ihrem Leib. Schützend legte sie die Hand darauf. Zugleich fraß sich eine mehr als düstere Erkenntnis in ihr Bahn. Mit Göllner war nicht allein wegen der geheimnisvollen Papiere schlecht scherzen. In seinem Gesicht meinte sie etwas aus einer lang zurückliegenden Zeit erspäht zu haben. Wie seltsam er auf ihre Ähnlichkeit mit Dora sowie auf ihr bernsteinblondes Haar reagiert hatte!
12
W ie betäubt saß Dora in der Kirchenbank, konnte den Blick nicht von dem gewaltigen Hochaltar wenden. Nach fünfwöchiger Reise war sie endlich am Ziel. Fast hätte sie letztens in Petrikau schon die Hoffnung aufgegeben, Krakau jemals noch rechtzeitig zu erreichen. Sieben Tage hatten sie dort unverhofft auf wichtige Waren aus Lublin warten müssen. Darüber war Steinhaus regelrecht außer sich geraten, Clas Tönnies dagegen schien sehr erfreut über die unerwartete Pause. Tagelang war der schweigsame Pfarrer verschwunden gewesen. Von den Fuhrleuten hatte Dora etwas von jüdischen Freunden aufgeschnappt, was sie sich nicht so recht zusammenreimen konnte. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass ihr die Zeit zum Nachdenken über Tönnies gefehlt hatte. Zu sehr hatte Mathilda sie in Petrikau in Anspruch genommen und ihr geradezu Löcher in den Bauch gefragt nach ihrer Kindheit, der verstorbenen Mutter Enlin sowie nach Vater Wenzel und seiner Einstellung zum Bierbrauen. Als ob die Base sich davon nicht längst schon selbst ein Bild gemacht hätte. Dora musste immer noch verwundert den Kopf schütteln.
Seit dem gestrigen Sonntag aber waren sie endlich in Krakau. Dafür sandte Dora ein aufrichtiges Dankgebet gen Himmel. Welche Fügung, dass sie dazu ausgerechnet in der katholischen Marienkirche am Großen Marktplatz saß. Wie von selbst hatten sie ihre Füße dorthin gelenkt. Verzückt versank sie schon eine geraume Weile in dem Genuss des beeindruckenden Kunstwerks von Veit Stoß. Polyphemus hatte gut daran getan, ihr so viel über den Nürnberger Meister zu erzählen. Vor mehr als zwei Menschenaltern war der Bildhauermeister nach Krakau berufen worden, um den Hochaltar zu Ehren der Gottesmutter Maria zu gestalten. Je länger Dora das Kunstwerk betrachtete, je mehr erfüllte sie Trost sowie die Gewissheit, bald wieder zu Hause in der Königsberger Altstadt bei Johanna zu sein. Dann wäre alles wieder gut, und sie würde fortan in Frieden und ohne drängende Schuld Veit gegenüber leben können. Sie verschränkte die Hände wie zum Gebet in ihrem Schoß und richtete den Blick aufmerksam nach vorn.
Ihr Platz im Mittelschiff lag einige Schritte von der Schranke vor dem Chorraum entfernt. Zu ihrem Bedauern waren die Flügel des Altars geschlossen. Doch auch die zwölf Bildtafeln mit den Stationen aus dem Leben und Leiden Christi auf der Außenseite schlugen sie in Bann. Atemlos verfolgte sie jede einzelne Szene mit den Augen, knetete die kalten Finger, tief bewegt von dem Gesehenen. Was gäbe sie darum, das Innere bewundern zu dürfen, das das Leben der Jungfrau Maria in all seinen Facetten darstellte. Vielleicht war ihr das Glück hold, und sie erlebte einen kirchlichen Feiertag, an dem der Altar geöffnet wurde. Einmal wenigstens wollte sie die aus Lindenholz geschnitzten Gestalten mit eigenen Augen sehen.
Wieder versank sie in der Betrachtung der reich mit Gold und vielerlei Farben ausgestalteten Bildtafeln. Darüber verloren Raum und Zeit jegliche Bedeutung. Dora merkte nicht, wie sich das Licht hinter den hohen, bunten Spitzbogenfenstern allmählich veränderte, Menschen neben ihr niederknieten und beteten, aufstanden und wieder verschwanden, andere ihren Platz einnahmen. Sie starrte immer nur in den Chorraum, suchte Halt an einer der reliefartig ausgearbeiteten Szenen, bewunderte das pralle Leben, von dem darin erzählt wurde. Es war ihr, als würden die Figuren aus den Bildnissen heraustreten und das Geschehen wie auf einer Bühne vorführen.
Selbst aus der Ferne waren in jedem Antlitz noch die menschlichen Regungen zu erkennen.
Weitere Kostenlose Bücher