Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
erhoben sich die schlanken Türme der Marienkirche, darinnen das Wunderwerk des Veit-Stoß-Altars. Eine Ewigkeit schien Dora vergangen, seit sie bei seinem Anblick jene Erhabenheit der Kunst und des menschlichen Schaffens verspürt hatte. Inzwischen war sie am anderen Ende des menschlichen Daseins angelangt. Ob es Hoffnung gab, dem jemals zu entrinnen?
Dora drängte es danach, für wenige Augenblicke nur die Nase gegen die eiskalten Glasrauten zu drücken, einen kurzen Blick auf das unschuldige, alltägliche Treiben auf dem Marktplatz zu erhaschen. Ihre neuerliche Bewegung Richtung Fenster wurde dieses Mal allerdings sofort mit einem grausamen Schlag auf den Hinterkopf geahndet. Starr vor Schmerz biss sie sich auf die Lippen, rang aufs heftigste mit sich, nicht heulend zusammenzubrechen.
Angestrengt richtete sie ihr Augenmerk auf die Bank an der Wandseite. Sie sah aus, als warteten sie auf weitere Besucher. Das erstaunte Dora, zugleich keimte eine zarte Hoffnung in ihr, Steinhaus und seine Freunde würden bald darauf Platz nehmen, um ein gutes Wort für sie beim Gerichtsvogt einzulegen. Rasch versuchte sie sich nicht allzu sehr auf diese Aussicht zu versteifen. Alles, was nur ein wenig anders als das unsägliche Warten im Kellerverlies sein würde, bedeutete bereits Erlösung, ganz egal, ob sie Beistand von außen erhielt, bald freikam oder ihr eine harte Strafe zugedacht war. Allein die Tatsache, gleich endlich ihrem Richter gegenüberzustehen und die wahren Umstände ihrer Verhaftung zu erfahren, zählte für den Moment.
Sie straffte den Rücken, bemühte sich um eine aufrechte Haltung, was der Büttel hinter ihr offenbar falsch verstand. Harsch drückte er ihren Kopf hinunter, schimpfte sie verächtlich »podły kurwa!«.
22
Z u Doras Erleichterung erklangen alsbald entschlossene Schritte auf dem Flur, begleitet von dunklen Männerstimmen. Sie spitzte die Ohren, lauschte angestrengt. Sie sprachen Deutsch. Je näher sie kamen, je genauer konnte sie sogar die einzelnen Stimmen voneinander unterscheiden. Es waren vier verschiedene, eine davon so tief und volltönend, dass einem davon die Magenwand vibrierte. Das musste der Gerichtsvogt sein, der sie festgenommen hatte. Zwei der drei anderen Stimmen kamen ihr zwar ebenfalls bekannt vor, allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob die eine davon tatsächlich Stanisław Podski oder einem der anderen Krakauer Kaufleute gehörte. Ebenso wusste sie die dritte nicht so ganz zuzuordnen. Dafür aber war sie bei der vierten Stimme felsenfest überzeugt, dass sie zu niemand anderem als zu Götz Steinhaus passte. Hoffnung flammte in ihr auf. Egal, wer von den vier Krakauern Steinhaus und den Gerichtsvogt begleitete, sie alle jedenfalls kamen, um ihr endlich beizustehen und sie aus dem Kerker herauszuholen. Wieder hätte sie am liebsten laut aufgejauchzt vor Freude, hielt sich jedoch im letzten Moment zurück. So kurz vor Ende ihrer Qual wollte sie dem Büttel nicht abermals Anlass zum Zuschlagen bieten.
Die Tür öffnete sich. Sie wollte sich umdrehen, da sie mit dem Rücken zu ihr stand. Dieses Mal traf sie der Schlag derart heftig ins Genick, dass sie von der Wucht zu Boden stürzte, einen Moment lang völlig benommen auf den Steinfliesen lag, ehe sie die Kraft fand, sich zumindest ins Sitzen aufzurappeln. Wütend riss sie der Büttel abermals an den Haaren, zwang sie ins Stehen zurück. Trotzig hielt sie den Kopf gesenkt, das Antlitz hinter dem nach vorn fallenden offenen Haar verborgen.
Die Stimmen waren verklungen. Schwere Schritte hallten durch den Raum. Einer der Männer eilte dicht an ihr vorbei zum hohen Lehnstuhl hinter dem Tisch, die anderen gingen etwas zögerlicher zu der Bank an der Längswand. Sie musste den Kopf nicht heben, um zu wissen, dass es sich bei dem Entschlossenen um den finster aussehenden Gerichtsvogt handelte. Sein schwarzer Schatten hatte sie deutlich genug gestreift, ebenso hatte sie seinen Geruch nach staubigen Akten, saurem Bier und faulen Zähnen eingeatmet. Von den Haaren geschützt, äugte sie zur Seite und stellte erleichtert das Erscheinen von Steinhaus, Podski und Baranami fest. Piotr Bonter und Fedor Spiski dagegen fehlten.
»Dora Stöckelin?«, herrschte der Gerichtsvogt sie unterdessen an und schien auf eine Rückmeldung ihrerseits zu warten.
Leise antwortete sie »ja« und hob den Blick. Der Büttel stieß sie in den Rücken. Sie stolperte einige Schritte nach vorn. Vor dem düsteren Riesen hinter dem Tisch kam sie sich
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